Sabine Dylla
Ich freue mich, mit diesem Artikel von Sabine Dylla in die »Vonhandkopien« einführen zu können. Das PDF lohnt das Lesen. Hier der erste Abschnitt:
Andreas Peschka
Kontinentaldrift
Artikel aus dem Jahrbuch ’96
© Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3−928342−64−9
Wann er die erste Zeichnung von »Kontinentaldrift« angefertigt hat, habe er nicht notiert. Es müßte um 1989 gewesen sein, erinnert sich Andreas Peschka in einem Gespräch über die Arbeit am 1.7.1996. Er nahm damals ein DIN A4-großes Blatt Pergamentpapier, legte es in einem Atlas auf die Karte der Mittelmeer-Region und fuhr mit einem Normzeichenstift die Kontur des Mittelmeeres nach: Spanien, Frankreich, Italien, Jugoslawien, Albanien, Griechenland, Türkei, Syrien, Libanon , Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko. Die Zeichnung machte das Blatt zu einem Querformat, und das Motiv machte oben gleichzeitig zu Norden, unten zu Süden, rechts zu Osten tmd links zu Westen. Der Verlauf der wiedererkennbaren Küstenlinie erscheint in der Zeichnung durch die Isolierung von anderen kartographischen Angaben wie die Kräuselung oder Stauchung eines durch die Luft geworfenen, dünnen Seils im Moment der Berührung mit der Erde. Und bleibt man noch einen Augenblick in der Bildsprache dieser Metapher zur Beschreibung der Arbeit, so wären die beiden Enden dieses Seils, die man gerade noch in den Händen gehalten hatte, die am linken Blattrand auslaufenden
Küstenlinien, die Portugal und Marokko mit dem Atlantik bilden, und die Meerenge von Gibraltar wäre der prekärePunkt, an dem Berührung oder nicht Berührung der Linien über das Offene oder Geschlossene der Form entscheiden würden. Zu einem späteren Zeitpunkt legt Andreas Peschka ein zweites Blatt Pergamentpapier von demselben Format über das erste und fährt mit dem Stift die durchscheinende Kontur der vorangegangenen Zeichnung nach. nachdem er fertig ist, läßt er beide Blätter übereinander und legt sie zur Seite. Wieder einige Zeit später, nimmt er das obere Blatt vom Stapel, legt ein weiteres darauf, zeichnet die durchscheinende Kontur mit dem Federstift nach und legt dann die Blätter 3 und 2 auf das erste. Auf diese Art und Weise sind bis heute 169 Blätter entstanden, wie man an der Numerierung unten rechts auf den Bögen ablesen kann. In seinem gegenwärtigen Präsentationszustand ist das Werk ein aus dünnen, lose übereinanderliegenden Pergamentbögen bestehender Block von 2 cm Dicke mit einem Gewicht von 775 Gramm. Aus der Zeichnung, die sich in filigranen schwarzen Linien in minutiösen Kurven, Windungen, Ausbuchtungen und Einzügen über das zuoberst liegende Blatt zieht, ist die zugrundeliegende Kopie der Mittelmeerkontur schon längst nicht mehr zu erkennen. Die aus der Landkarte entnommene Trennungslinie zwischen Land und Meer scheint sich verwandelt zu haben. Die Form ist eine Kunstform geworden, die in ihrer Vieldeutigkeit die denotative Ebene weit übersteigt und assoziativ vorstellungsstiftend wirkt. Die Linie ist jetzt zu einem Bild geworden, das die sprachliche Beschreibung nicht mehr erreichen, bestenfalls nur noch punktuell berühren kann: wie die Fasern eines Blattes, wie mikrobische Flechten, wie das Flimmern vor den Augen, das zu eng beieinanderliegende Linien auslösen. Während der bisher ca. sieben Jahre andauernden Entstehungszeit des Werkes hat Peschka dreimal die Zeit, die er für eine Zeichnung benötigte, gemessen und rechts oben auf dem jeweiligen Blatt vermerkt: 56, B – 16 Min. (9.55 – 10.11h), 155 – 63 Min., 169 – 81 Min. (20.37 – 21.50). Auf diesem bisher letzten Blattsteht auch zum ersten Mal ein Datum: »17.10.1994«.
Soweit dieser erste Abschnitt. —— Hier der vollständige Artikel.
Daß etwas in der Zeit besteht, immer noch da ist, während anderes verschwindet, daß dieses Etwas vorzeiten einmal etwas Anderes gewesen ist, aber immer noch als es selber auftaucht, daß es diesen Vorgang der Übergabe von jetzt auf gleich gibt, der jenes Andere als sein jetziges Etwas begrüßt und feiert, tradieren in Traditionsbewußtsein verwandelt, weil es unter der pflegenden Hand zur Zukunft korrodiert, unmerklich, langsam, den vielen Entscheidungen hingegeben, die ein Nachzeichnen verlangt. Daß die Perfektion der Genauigkeit, wie sie all die unwillkülichen, verunsichernden Impulse offenlegt und daß jedes Gegensteuern, immer zu grob zeichnend in des Sandes körnige Katastrophen, unter der bebenden Hand entgleiten ganze Hänge, Ufer stürzen in die Tiefe, als suchten sie mit Gewalt nach Ursprung, den sie in genau diesem Moment verlieren, diesen Abbruch jetzt, das Versagen, aber mein Schritt, immer der nächste ist schon fort, der Fuß gesetzt auf das immer nächste Abgleiten, so geht man über Wasser schnell und langsam genug markiert jedes Auftreffen auf die Oberfläche des vorgezeichneten Weges sein derzeitiges Jetzt, es bestimmend gehabt habend verlierend, zum Anfang dem einstigen ist es ein langer Fall.
Ein Tropfen Tinte, den es zu führen gilt, eine glänzende Spur durch den Nebel der Vorgabe.
Atemlos ohne Hast. Ein ganzer Globus bewegt sich durch sogenannte geologische Zeiträume als wenn für alle Zeiten stabil in der Illusion momentaner Ewigkeit. Die allerdings: so nimmt sie jeden Jetztpunkt als ideal schlüssig wie 1=1 ewig wahr. Die Spitze in der all das kumuliert, satt gegeben gegenwärtig erfüllt und nicht anders zu denken, als perfekt.
Der Kiel des Bootes, zieht und schiebt einen Tropfen Tinte, Galilei, sagt, »die Spitze einer Feder auf einem Schiff«, über eine imaginäre Karte, 1:1, was würde das für eine Linie, wie vielfältig gewunden unter den Impulsen von Wellen und Winden und den Unzulänglichkeiten der Besatzung hier und dort hin eine krakelige Unruhe, die zweifeln läßt, wohin denn endlich die Fahrt gehe und doch ergibt sich eine Route und ein Hafen nach dem andern wird angelaufen, das Mittelmeer umrundend scheint’s, wird man in absehbarer Zeit den Ausgangsort wieder erreicht haben; die Linie geschlossen. – Nein!