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Künste am Rande der Welt

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Bücher­sta­pel

Lieblingsbücher

Unter der Begriffs­an­samm­lung im Glos­sar ein Sta­pel Bücher – mehr oder weni­ger geord­net, mehr oder weni­ger ≈kom­men­tiert. Eigent­lich, denkt man, sind Bücher aus Wör­tern gemacht, tat­säch­lich aber machen Bücher Wör­ter.

Unter mei­nem Wör­ter­hau­fen mei­ne Bücher­säu­le. Nach und nach wird das gan­ze Aus­maß sicht­bar. Tat­säch­lich meist Bücher. Sta­pel nach Autor; Hau­fen per Strange­Lem­ma.

Nicht, daß man mich für bele­sen hält. Mir reicht pro Buch mal auch nur ein Wort, ein Gedan­ke, ein Kon­zept, um wei­ter­zu­kom­men. Mußt ich zwar erst mal fin­den – und Deckel zu. (Ah! Titel&Klappentext. Zwin­kers­mi­ley.) Endet dann als Fluß­schlamm auf Regal­bret­tern, in dem ich zuzei­ten ver­zwei­felt nach ehe­mals aus­ge­mach­ten Schät­zen suche. (Binich dum­mer Pirat, der die Stel­len, wo der Schatz ver­senkt, mit Ker­ben in der Bord­wand mar­kier­te.) Letzt­lich muß ich mich auf die hol­pern­de Misch­ma­schi­ne mei­nes halb- und un-bewuß­ten »Wis­sens« ver­las­sen – immer­hin öfters ein genia­ler Appa­rat – sei­nen Zufäl­len nach, mit denen er bestimmt, was mir je der Fall ist.

Hier jeden­falls gibt’s die­sen Sta­pel von Buch/​Text/​sonstwas, von mir auf­ge­grif­fen, mit dem sich ange­ben läßt (z.B. Zita­te — ach so, Zita­te: nein ich fol­ge nicht wis­sen­schaft­li­chen Zitier­re­geln; was weiß ich, wel­chem Ein­fluß ich grad fol­ge; ich tu mein Bestes um nie­man­den zu krän­ken, zu miß­ach­ten, aber na ja. Wer sich über­sehn fin­det, genannt sehen will, bit­te mel­de er sich. Ich trag’s nach.) Denn ich selbst bin ein Pla­gi­at.

Ken­neth J.Hsü (M.B.Cita, W.B.F.Ryan)

Das Mit­tel­meer war eine Wüste

– auf For­schungs­rei­sen mit d. Glo­mar Chal­len­ger

Mün­chen, Har­nack, 1984

ISBN:3–88966-012–6

Klingt wie Zau­ber­wort: „Stroma­to­lith, Chicken­wire-Anhy­drit, Eva­po­rit, Stier­au­gen For­ma­ti­on“, han­delt sich aber ledig­lich um spe­zi­el­le For­men von Abla­ge­run­gen, um sol­che näm­lich, die in fla­chen war­men Ufer­zo­nen, Lagu­nen oder Sabkhas zu fin­den sind.

Stroma­to­li­then sind Gesteins­for­ma­tio­nen, die in fla­chem, hel­len, hoch­kon­zen­trier­tem und ufer­na­hem Mee­res­was­ser durch das Wech­sel­spiel von geo­lo­gi­schen und bio­lo­gi­schen Abla­ge­run­gen ent­ste­hen. Anhy­drit ist ein Gips­stein, dem das Kri­stall­was­ser durch Ver­dun­stung bei Tem­pe­ra­tu­ren über 35°C ent­zo­gen wur­de. Dabei ent­steht eine im Anschnitt selt­sam kanin­chen­draht­ähn­li­che Struk­tur. Bei­de Gestei­ne gehö­ren zu den Eva­po­ri­ten, den Ein­dun­stungs­ge­stei­nen. Trock­net eine Sen­ke vol­ler Meer­was­ser aus, so lagern sich die Stof­fe im Meer­was­ser in der Rei­hen­fol­ge ihrer Lös­lich­keit ab, was ein typi­sches ring­för­mi­ges Muster erzeugt, das Stier­au­ge. Alles nicht so sehr was Beson­de­res, wenn man es in Flach­was­ser­zo­nen fin­det.

Ent­deckt man das­sel­be aber in der Tief­see, am Grun­de des Mit­tel­mee­res, dann mag man zunächst doch an Zau­be­rei glau­ben – und end­lich zu dem Schluß kom­men: Das Mit­tel­meer muß im Lau­fe sei­ner Geschich­te trocken gefal­len sein. Tat­säch­lich haben die Unter­su­chun­gen des Deep Sea Dril­ling Project’s, Expe­di­tio­nen des Bohr­schif­fes Glo­mar Chal­len­ger, im Mit­tel­meer eine Fül­le von Daten erge­ben, die auf das wahr­schein­lich mehr­ma­li­ge Trocken­fal­len des Mit­tel­mee­res hin­aus­lau­fen. Etli­che ande­re Indi­zi­en sind schon hin­zu­ge­kom­men: Die Geschich­te die­ser Ent­deckung schil­dert Ken­neth Hsü als einer der Betei­lig­ten. Eine Mei­ster­lei­stung, For­schung pla­stisch, und man muß sich das Mit­tel­meer ein­mal sei­nes Was­sers ent­blößt vor­stel­len, um ima­gi­nie­ren zu kön­nen, was eine gewal­ti­ge Geo-Pla­stik so ein Meer ist.

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Peter Pesic

See­ing Dou­ble

– shared iden­ti­ties in Phy­sics, Phi­lo­so­phy and Lite­ra­tu­re

The MIT Press, 2002

ISBN: 0–260-66173‑X

Ato­men Indi­vi­dua­li­tät zuzu­schrei­ben, ist sozu­sa­gen ein tau­to­lo­gi­sches Oxy­mo­ron, da Ato­men phy­si­ka­lisch eine indi­vi­du­el­le Iden­ti­tät qua­si ver­bo­ten ist.

Seit jene sich sehr wohl und letz­lich unend­lich als teil­bar erwie­sen, steht jede Indi­vi­dua­li­tät im Ver­dacht, ins­ge­heim doch teil­bar zu sein. Ich fin­de ja, daß mei­ne Iden­ti­tät wie ein Gefun­kel, ein Schwarm, ein mul­ti­ples Ten­ta­kel sich durch­aus teil­bar ver­hält und mit irgend­wie abschließ­ba­ren Grund­stücken oder sonst­wie festen Kern-ICHs nichts mehr zu tun hat – den­noch gibt es die Emp­fin­dung kon­kre­ter, ver­ein­zel­ba­rer Momen­te, die mit einem „indi­vi­du­ell“ doch zu fas­sen wären. So beweg­lich gar tur­bu­lent eine Situa­ti­on auch sei, auf ihre Momen­te kann man sozu­sa­gen mit dem Fin­ger zei­gen.

Pesics Buch scheint auch die­sen Gefüh­len die letz­ten phy­si­ka­li­schen und phi­lo­so­phi­schen Grün­de zu ent­zie­hen. Der Man­gel an Indi­vi­dua­li­tät wird gestei­gert duch die völ­li­ge Gleich­heit und Aus­tausch­bar­keit aller Par­ti­kel der phy­si­ka­li­schen Teil­chen­welt. Ein Skan­dal, ein Wür­gen im Hal­se — pro­du­zie­ren sich Künst­ler doch als indi­vi­du­el­le Indi­vi­dua­li­täts­her­stel­ler. Ande­rer­seits ver­öf­fent­licht das Buch das Pho­to eines iso­lier­ten Xenon Atoms. Es zeigt: hier, jetzt, da war’s. Wis­sen­schaft­li­ches Pho­to! O.K.! Natür­lich, das Pho­to ist ein Kon­strukt, aber zeigt es nicht ganz genau …

Das gro­ße, bläu­li­che Xenon­atom hat sogar ein Loch in der Mit­te, durch wel­ches ein Nickel­atom sicht­bar wird.[Image ori­gi­nal­ly crea­ted by IBM Cor­po­ra­ti­on]

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Tom Raworth

Coll­ec­ted Poems

car­ca­net Press limi­t­ed, 2003

isbn 1−85754−624−5

Mit einem ganz kur­zen Gedicht hat­te er mich. „Jungle Book“. Fünf Zei­len, mehr­fa­ches Rät­sel, eine Mah­nung, Wahr­heit über Kunst und Kon­kur­renz … und wann es töd­lich ist, zu ver­trau­en, Selbst­ver­ständ­lich­keit zuzu­las­sen. Ich wer­de ver­su­chen, das Gedicht für die Geo­po­et­sei­te, spe­zi­ell Unter­sei­te shop, zu bekom­men. Über­setzt hab ich es schon mal (pdf). Und seit dem 18.2.2011 17:26 habe ich net­ter­wei­se (Dan­ke!) die Erlaub­nis zum Abdruck! [Das Gedicht ist kost­bar für mich. Ich bin noch nicht ent­schie­den, wohin ich’s auf der erneu­er­ten geo​po​et​.de set­zen soll.

Hier der erste Abdruck.  —   Hier: Tom Raworth bei Wiki­pe­dia

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Eli­as Canet­ti

Über den Tod

Carl Han­ser Ver­lag, 2003

isbn 10 3−446−20239−0

Der Tod ist DER FEIND. Punk­tum.

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Kurt Ros­sa

Todes­stra­fen

– ihre Wirk­lich­keit in drei Jahr­tau­sen­den

Ger­hard Stal­ling Ver­lag, Oldenburg/​Hamburg, 1966

isbn (noch nicht ein isbn-buch)

Bei uns im Hau­se befand sich die Gemein­de­bü­che­rei, und ich hat­te frei­en Zutritt, wann immer ich woll­te und freie Aus­wahl. Das Lese­pa­ra­dies mei­ner Kind­heit. Manch­mal aber schnei­det man sich sogar im Para­dies.

Irgend­wann geriet mir dies Buch in die Hän­de, ich schlug es auf, zufäl­lig sofort auf einer der Bild­sei­ten – Ent­haup­te­te! Schlimm! Ich schlug sofort wie­der zu, aber das Bild hat­te ich schon, einen grau­sa­men Augen­wurm, ein Pho­to, das von da an nie mehr Ruhe ließ. Schock, Ent­set­zen sind zu schwa­che Wör­ter. Als ich vie­le Jah­re spä­ter Batail­le las, kam ich der Klin­ge, die damals in mir abbrach, am näch­sten, ohne sie zie­hen zu kön­nen. Durch jenen ersten Blick gibt es für mich kei­ne Büh­ne, kei­nen Auf­tritt, kei­ne Aus­stel­lung, nie eine bewuß­te Prä­senz, die nicht auch Scha­fott ist. Und dar­über hin­aus ist da kei­ne admi­ni­stra­ti­ve, insti­tu­tio­nel­le oder ins­ge­samt sozia­le Situa­ti­on, die sich nicht umstül­pen könn­te und von ihrer Auf­ga­be Schutz und Dienst, die gute&freie Ein­bet­tung all ihrer Ein­zel­nen abzu­lie­fern, umschla­gen könn­te ins Gegen­teil, in mör­de­ri­sche Tat. Hier im Namen der Gerech­tig­keit.

Das Buch, das ich in den fol­gen­den Jah­ren umkrei­ste immer zudring­li­cher, so wie mit Zun­ge im schmer­zen­den Zahn las und las in klei­nen Schü­ben zunächst heim­lich natür­lich eine, zwei Sei­ten mal hier mal da — das Buch stell­te sich als eine enga­gier­te, klar argu­men­tie­ren­de Schrift gegen die Todes­stra­fe her­aus. Unge­läu­ter­tes Recht, das zu mor­den unter­nimmt, führt sich selbst ad absur­dum und ent­zi­vi­li­siert die eige­ne Gesell­schaft. Der zum Paket geschnür­te, sich in Todes­angst win­den­de Delin­quent, ver­blieb ante mor­tem schon der­art mas­siv als blo­ßes Ding­stück, daß mir schien, nicht mehr allein sei­ne Befrei­ung, son­dern nur die aller Din­ge, nicht mehr ledig­lich die Eman­zi­pa­ti­on aus ver­här­te­ten Gesell­schaf­ten, son­dern nur die aus Objek­ti­vie­run­gen über­haupt kön­ne so etwas hei­len. Wobei die Abschaf­fung der Todes­stra­fe und die Lin­de­rung aller Moti­ve, die zu ihr füh­ren, natür­lich sofort anlie­gen müs­sen.

Kurt Ros­sa bei Wiki­pe­dia

Irgend­wann wur­de die Büche­rei auf­ge­löst, ich konn­te mir eini­ge Bücher aus dem Bestand ret­ten, das schmerz­haf­te war dabei und gehört mir bis heu­te. Inner­halb mei­nes Wer­kes ist das „Pro­me­na­den­kon­zert“ die Arbeit, in der sei­ne anson­sten kaum merk­li­che Anwe­sen­heit am deut­lich­sten fühl­bar wird.

Der zum Paket geschnür­te, sich in Todes­angst win­den­de Ver­ur­teil­te, wie er, »Ich bin unschul­dig!«, stam­melt, »Das ist höhe­re Gerech­tig­keit!«, schon ante mor­tem nur mehr Ding&Stück — den Mecha­nis­mus der Ent­haup­tungs­ma­schi­ne neu auf­ge­zo­gen: lie­ßen sie das Beil end­gül­tig fal­len.

Der zum Paket geschnür­te, sich in Todes­angst win­den­de Ver­ur­teil­te, wie er, »Ich bin unschul­dig!«, stam­melt, »Das ist höhe­re Gerech­tig­keit!«, schon ante mor­tem nur mehr Ding&Stück — den Mecha­nis­mus der Ent­haup­tungs­ma­schi­ne neu auf­ge­zo­gen: lie­ßen sie end­gül­tig kon­se­quent fal­len. 

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Bern­hard Floß­dorf

Krea­ti­vi­tät

Bruch­stücke einer Sozio­lo­gie des Sub­jekts

Syn­di­kat, Frankfurt/​M., 1978

isbn 3−8108−0081−3

Krea­ti­vi­tät ist die Wei­se, wie Schöp­fungs­kraft aus­beut­bar gemacht wird.

Rat­lo­sig­keit macht erfin­de­risch, so kommt man durch den All­tag, das Leben, die Welt.

Mit dem „Krea­ti­ven Zir­kel“ ist das Rat­ten-Rad erfun­den, in dem man Spe­zia­li­sten inno­va­ti­ons­för­dernd auf der Stel­le tre­ten läßt. Ich habe das Buch lan­ge nicht zur Hand genom­men. Ich erin­ne­re mich noch an jenen Kern, der seit­dem här­ter, drücken­der gewor­den ist, eine pei­ni­gen­de, mas­si­ve Erb­se unter den Dau­nen­kis­sen angeb­li­cher Krea­ti­vi­täts­freund­lich­keit und Indi­vi­dua­ti­ons­freu­dig­keit in die­ser unse­rer kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft. Als einen Krea­ti­ven bezeich­ne ich mich wohl­weis­lich nicht mehr, seit ich das klei­ne Buch gele­sen habe. Und seit lan­gem sehe ich den indu­stri­ell-uni­ver­si­tä­ren Kom­plex, wie er sein Intel­lens- und Krea­tifs­pro­le­ta­ri­at in die Ökon­ämie spuckt. Das Buch fängt unter­halt­sam an und ent­wickelt sich zu einer ele­gant geschrie­be­nen Kri­tik der Krea­ti­vi­tät. (Ach ja: Päd­ago­gen und so soll­ten das Buch min­de­stens drei­mal lesen.)

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Gaston Bachel­ard

Die Flam­me einer Ker­ze

(Theo­rie der dich­te­ri­schen Ein­bil­dungs­kraft)

Edi­ti­on Akzen­te, Han­ser, Mün­chen, Wien, 1988

isbn 3−446−14069−7

Der Wider­schein einer ein­zel­nen Ker­zen­flam­me.

Bachel­ard erzeugt einen flackern­den Erkennt­nis­raum aus Flam­men-Ima­gi­na­tio­nen — flam­men­den Ima­gi­na­tio­nen, unste­ten, meta­mor­phen, inein­an­der­flie­ßen­den Prä­sen­zen: Träu­me­rei­en, die zunächst als zu rea­ler Erkenn­tis unfä­hig erschei­nen, dann als Urgrund von Welt­erkennt­nis, dann als Sub­stanz von Wis­sen­schaft, dann end­lich auch als Kor­rek­tiv zu natur­wis­sen­schaft­li­chen Stan­dard­mo­del­len, schließ­lich eben­bür­tig. Darf man soweit gehen? Wür­de Bachel­ard soweit fol­gen? Sicher­lich, sogar vor­aus, so wie er Begrif­fe von Dis­kon­ti­nui­tät in wis­sen­schaft­li­chen Ent­wick­lungs­pro­zes­sen pfleg­te, lan­ge bevor Tho­mas S. Kuhns Licht die Ten­ne betrat. Was jeden­falls als eine Samm­lung von kom­men­tier­ten „Feu­er-Stel­len“ in Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie erscheint, ist eine sehr brei­te Start­bahn für ein Über­den­ken der Unru­he, aus der jed­we­de auf­mer­ken­de Erleuch­tung springt.

Doch allein schon als Stoff­samm­lung zur Kerzen/​Flammenmetapher anschaf­fens­wert.

Und noch die­ses: Bachel­ards, „Psy­cho­ana­ly­se des Feu­ers“, eben­falls Edi­ti­on Akzen­te, bei Han­ser, 1985

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Les­zek Koła­kow­ski

Der Mensch ohne Alter­na­ti­ve

Von der Mög­lich­keit und Unmög­lich­keit, Mar­xist zu sein

Piper Ver­lag Mün­chen, 1964

isbn 3−492−00440−7

Ent­schie­den­heit, Per­fek­ti­on, Kon­se­quenz, … und end­lich schon banal, Wie­der­erkenn­bar­keit, Brand & Mar­ke, Stil — Begrif­fe, in deren Nähe wer­de ich unru­hig, Flucht­re­flex, Aus­weich­ver­hal­ten, wie naiv auch immer: Ich will mich nicht auf nur eine Spur fest­le­gen las­sen, nie alles auf nur eine Kar­te gesetzt haben.

Ent­we­der/O­der-Situa­tio­nen machen mir vor allem Angst. Beklem­mung.

Inkon­se­quenz ist mir nah, schon erzo­gen wur­de ich inkon­se­quent, und wenn etwas in die­ser Erzie­hung war, in dem ich mich wie­der­erkann­te, mich wie­der­erken­ne, dann die Inkon­se­quen­zen mei­ner Eltern. Strin­genz fin­de ich immer nur im Nach­hin­ein, wenn die gro­ßen Lebens­re­sul­tan­ten im Über­blick manch­mal sicht­bar wer­den dür­fen.

Den Auf­satz Les­zek Koła­kow­skis: „Vom Wert der Inkon­se­quenz“ las ich Ende der sieb­zi­ger Jah­re im Phi­lo­so­phie­stu­di­um und emp­fand das erste Mal für einen phi­lo­so­phi­schen Text so etwas wie Wär­me, Wie­der­erken­nen.

Ver­wandt­schafts­wär­me. Das muß man sich mal vor­stel­len, Inkon­se­quenz als Wert, als ein mora­li­scher WERT, als wis­sen­schaft­li­cher und künst­le­ri­scher WERT.

Dabei rings­um damals all die um Kon­se­quenz rin­gen­den, um Abgen­zung kämp­fen­den avant­gar­de­s­quen Grup­pen- und Indi­vi­du­al­feh­den (sie haben ja auch einen Lehr­stuhl für Koła­kow­ski in Frank­furt zu ver­hin­dern gewußt), … sind heu­te end­lich schlecht abge­löst durch Markt- und Mar­ken­kon­kur­ren­zen, Allein­stel­lungs­kenn­zei­chen, Inno­va­ti­ons­zie­le …]

Inkon­se­quenz als Wert, aber noch wich­ti­ger, als ein Mit­tel, sich den Mög­lich­keits­ho­ri­zont offen zu hal­ten, ich las, und die von mir zuvor als Schwä­che emp­fun­de­ne Unklarheit&Vielfältigkeit mei­ner Aus­rich­tun­gen bekam Gel­tung und Wür­de.

Tole­ranz, wenn sie leb­bar sein soll, braucht Inkon­se­quenz.

Kunst fas­se ich als Mög­lich­keit auf zur inter­nen Inkon­se­quenz. Werk und Hal­tung blei­ben ten­ta­kelnd, unru­hig und unrein.

Es resul­tie­ren ent­spre­chend exter­ne Inkon­se­quen­zen. Ich befein­de Fana­tis­mus.

Aber sicher, Inkon­se­quenz zu fana­ti­sie­ren, alter­na­tiv­los zu betrei­ben, geht nicht. Auch Kon­se­quenz kann man mal gut sein las­sen.

Koła­kow­ski bei Wiki­pe­dia

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Car­son McCul­lers

Das Herz ist ein ein­sa­mer Jäger

Dio­ge­nes Ver­lag Zürich, 1974

isbn 3−257−20143−5

Am Ende scheint’s, erlischt noch wie ein letz­ter Fun­ke Hoff­nung die so unan­ge­mes­se­ne wie wohl­wol­len­de Lie­be, die Bran­non, der Wirt, gegen­über dem Mäd­chen Mick, ihrer „sprö­den Kind­lich­keit“, hegt.

Wäh­rend sie mit den Ent­frem­dun­gen des Erwach­sen­wer­dens kämpft, trau­ert er um die Kin­der, die er nie wird haben kön­nen, sie schlägt die Bei­ne über­ein­an­der, um eine Lauf­ma­sche zu ver­ber­gen, er sieht, sie miß­ver­ste­hend, ein geziert däm­chen­haf­tes Geha­be, wel­ches ihm ihre Beson­der­heit zer­stört. Zuvor schon sind die Träu­me und Hoff­nun­gen der Hel­den des Romans alle­samt erlo­schen und sind einer all­ge­mei­nen, tie­fen Ernüch­te­rung gewi­chen. Die gro­ße Depres­si­on der drei­ßi­ger Jah­re hat sie aus­ge­laugt, weg­ge­schwemmt.

„Ein ver­zwei­felt schö­nes Buch über das Schei­tern mensch­li­cher Sehn­süch­te“ (Elke Hei­den­reich); „A com­mon cry of iso­la­ti­on“ (Dana Gioia); am Ende sind der Taub­stum­me und sein taub­stum­mer Freund tot, der Mög­lich­keits­raum des Romans scheint ver­fal­len — trost­los. Tra­gisch? Nicht die Taub­stum­men, es hät­te das Taub­stum­me der Zeit ster­ben müs­sen — aber doch es starb eini­ge etli­che Jah­re spä­ter. Immer­hin. Der ver­lo­re­ne Pes­si­mis­mus des Buches ist für mich ein Pes­si­mis­mus, der ver­lo­ren hat.

Ein Buch über das Gären, über Latenz, dar­über, daß alles schon da ist, viru­lent, was spä­ter auf­kommt, hoch­bricht: Noch etwa 16 Jah­re bis zu Rosa Parks, Ala­ba­ma; 25 Jah­re zu den initia­len Stu­den­ten- unru­hen, Sprout Hall Ber­ke­ly; 27 Jah­re bis zur Grün­dung der Natio­nal Orga­nizati­on of Women…

McCul­lers (*1917) stirbt 1967 auf dem Höhe­punkt der Hip­pie­be­we­gung und der Anti-Viet­nam­kriegs Pro­te­ste.

Ein Buch über die Wider­stän­dig­keit jen­seits allen Hof­fens.

Eine schön aus­führ­li­che Inter­pre­ta­ti­on des Buches (viel­leicht ein biss­chen sehr Schul­funk, aber gut, soli­de) ist hier.

In Sachen Deu­tung bin ich öfters nicht d’accord, beson­ders sehe ich nicht John Sin­ger im Zen­trum, son­dern Spi­ros Anton­a­pou­los, die Sin­gu­la­ri­tät im Zen­trum, Sin­ger ist kon­stru­iert als die

spie­geln­de ≠ reflek­tie­ren­de

Peri­phe­rie der McCul­lers Welt. Man sehe die „Stoff­samm­lung zur Golem-Anla­ge“, die ich hier als pdf (92KB wach­send) hin­ge­stellt habe.

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Hans Peter Duerr

Traum­zeit —

Über die Gren­ze zwi­schen Wild­nis und Zivi­li­sa­ti­on

Syn­di­kat, 1978

isbn 3−8108−6677−5

Sein Buch Traum­zeit, S. 9 bis S.162 der argu­men­tie­ren­de Thread Lang­text mit Kapi­teln und mit Bil­dern, dann von S. 163 bis S. 415 Anmer­kun­gen auch mit Bil­dern und Appa­rat. Der Anmer­kungs­teil län­ger als der Haupt­text, am Haupt­text hängt das Gestückel der Nach­wei­se und ihrer Kom­men­ta­re. Ich konn­te mich in bei­dem fest­le­sen. Ich konn­te von hin­ten nach vor­ne sprin­gen, was öfters reiz­vol­ler war, als umge­kehrt. Von der Aus­gra­bung in den Schwung von Erzähl­fluß und Stra­te­gie. Das moch­te ich also schon mal.

Traum­zeit — Über die Gren­ze zwi­schen Wild­nis und Zivi­li­sa­ti­on

Der Titel gefiel mir schon vor­her. Eth­no­lo­gie dar­in, Erkennt­nis­theo­rie, Bewußt­seins-erwei­te­rung u. ‑len­kung, Rei­se als Erfin­dung, Phan­ta­sie als Rea­lie­rung. Gedan­ken­sprün­ge und Anschlüs­se; Nach­wei­se und Skep­sis.

Dort fand ich den Titel für mei­ne Per­for­mance »Nacht­fahr­ten«. Denn im Buch hat­te es jene »Nacht­fah­ren­den«, die inner­lich aus­flogen über Ber­ge und Täler, dabei Land­schaf­ten divers kreuz­ten, aber für Zeu­gen­au­gen starr und stil­le lagen und blie­ben. So hat­te ich also ein Wort , wel­ches sich neu­tra­ler und unbe­la­ste­ter ver­wen­den ließ als z.B. Medi­um, Scha­ma­ne, Hexer, Hexen­mei­ster, …, den­noch die­se her­ein hol­te in mein gel­bes Auto und die abge­fah­re­nen Land­schafts­schöp­fun­gen, alle­go­re­ti­schen Rei­se­er­fah­run­gen im Ander­raum der Per­for­mance mei­ner Heim­fahr­ten damals, in der Lee­re des Autos und die lan­gen lang­sa­men Auto­bahn­fahr­ten, Asphalt, über­ho­len­de Last­kraft­wa­gen, Rück­lich­ter, Tank­stel­len­blau, Kon­struk­te von Traum­zeit pas­sier­ten die Däm­me­rung am Mor­gen nüch­tern und säku­lar.

Es brauch­te für mich weder der Sal­ben oder Injek­tio­nen, in mir fuhr ich ganz von allein ins Wei­te­re.

Nacht­fahr­ten gibt es auch am Tage, so wie es über dem Blau des Him­mels mit­ten in Olbers Para­dox das Schwarz gibt.

Motor­ge­räusch. Und noch ein Buch von ihm: Ni Dieu – ni mèt­re, Anar­chi­sche Bemer­kun­gen zur Bewußt­seins und Erkennt­nis­theo­rie. 59 Sei­ten Text und 180 Sei­ten Appa­rat. Die­ter Hen­rich und Paul Feyer­abend als Paten sei­nes Sün­den­falls, den er von Anfang an zu ver­tei­di­gen weiß. Bei der Anzie­hung, die die Natur­wis­sen­schaf­ten auf mich aus­üben, tol­les, teuf­li­sches Gegen­mit­tel — Lie­be zum Leben eben. Kopf­stress inclu­si­ve.

Teu­fel → Pan → Pro­me­theus’ Ver­wand­lungs­flucht des angeb­lich Bösen, Trick­s­ter­rei­se erlö­send hin zur Ver­än­der­lich­keit der Welt → das Neu wehe und wohl.

Hans Peter Duerr
Ni Dieu – ni mèt­re
Suhr­kamp, 1974
isbn 978−3−518−28141−3