NIL & Och­sen­au­gen

Vor­trag in der Hoch­schu­le für bil­den­de Kün­ste Ham­burg 1994

Heben Sie das Was­ser aus dem Mit­tel­meer, den gan­zen kla­ren Was­ser­kör­per über sein Gefäß. Ein gigan­ti­sches, bizar­res Volu­men, zwei mal. Der gigan­ti­sche Was­ser­kör­per vol­ler Strö­mun­gen und Leben und Licht — und die unge­heu­re Schlucht, das Reli­ef ihrer Land­schaf­ten, es gibt Ebe­nen und Gebir­ge dort unten, Sen­ken, Täler und am Rand die­se stei­len, kilo­me­ter­ho­hen Cañòn­wän­de an deren schrof­fen Rand Sie ste­hen. Das Loch | das Was­ser. Der Was­ser­kör­per wird Ihnen ver­dun­sten, die ent­hal­te­nen Fest­stof­fe fal­len der Schlucht zu.

Dies Gedan­ken­spiel kommt Ihnen absurd vor?

Doch tat­säch­lich ist die­ses gan­ze Meer das ein oder ande­re Mal ganz aus­ge­trock­net dage­le­gen. Noch dazu steht eine erneu­te Aus­trock­nung in geo­lo­gisch nicht gar zu fer­ner Zeit wie­der bevor, weil sich Afri­ka und Euro­pa im Dran­ge der Kon­ti­nen­tal­drift ein­mal mehr auf­ein­an­der zu bewe­gen. Die Meer­enge von Gibral­tar wird sich folg­lich schlie­ßen, der Zufluß aus dem Atlan­tik wird abge­rie­gelt, die paar Flüs­se die das Mit­tel­meer errei­chen (immer ver­sieg­ter, immer weni­ger) wer­den kei­nes­falls aus­rei­chen, die Ver­dun­stung aus­zu­glei­chen. Als letz­tes wird der gigan­ti­sche Was­ser­fall des Nils ver­sie­gen.

Und fer­tig ist die Wüste. Eine rea­le, rea­li­sti­sche, aber ima­gi­nä­re Pla­stik. Kunst und Wis­sen­schaft.

Nun, also jetzt Ihnen in Ihren momen­ta­nen Umge­bun­gen, über­ge­be ich mit einer Schrö­din­ger­be­haup­tung eine sprö­de Gewiss­heit: »schon jetzt ist die Schlucht gege­ben, das Meer ent­fernt, klafft die Lee­re«. Solan­ge Sie nicht hin­fah­ren, sogar selbst dann, sogar wenn Sie mei­nen, Ihren Augen trau­en zu kön­nen — der Über­la­ge­rung von DA und nicht DA, ent­kommt man nicht.

Der Vor­trag, „Kon­ti­nen­tal­drift Mit­tel­meer“, küm­mert sich um die Schaf­fens­be­din­gun­gen solch pla­sti­schen Schaf­fens und gibt mit Kon­ti­nen­tal­drift und Mit­tel­meer ein weit aus­ge­führ­tes Bei­spiel.

11.2. – 13.2. 1994 — Der Vor­trag wür­de zuerst gehal­ten unter dem Titel: »Ultra­lang­sa­me Bewe­gung ung Kon­ti­nen­tal­drift Mit­tel­meer«, Vor­trag zum Sym­po­si­um, »Über­gangs­bo­gen und Über­hö­hungs­ram­pe – natur­wis­sen­schaft­li­che und künst­le­ri­sche Ver­fah­ren«, einer Ver­an­stal­tung der Hoch­schu­le der Bil­den­den Kün­ste Ham­burg in Zusam­men­ar­beit mit der Kunst­hal­le; ein Rea­der erschien 1996. Es gibt mei­ne Kon­zept­kar­tei als Edi­ti­on.

Daß dies alles hier her­um einst eine ganz ande­re Land­schaft war, eine ande­re Welt, eine für uns nun kaum mehr erfahr­ba­re Wirk­lich­keit: Pla­net heißt Wan­del­stern.

Gera­de mit mei­nem Kajak von einem Aus­flug auf die Ost­see zurück­ge­kehrt, blick­te ich vom Ufer aus über die wei­te Was­ser­flä­che zurück. Indem ergab sich ein selt­sa­mer Moment, da von hin­ten kom­mend – eine Grup­pe in vol­ler Aus­rü­stung im Gän­se­marsch – Tau­cher hin­ter Tau­cher lang an mir vor­bei ins Was­ser streb­te, mit der Nei­gung des Stran­des abwärts zog, bis end­lich auch die Köp­fe unter Was­ser ver­schwun­den waren und nichts zurück­lie­ßen, als eini­ge aus­lau­fen­de Wel­len­krin­gel, an deren Stel­le mit glei­cher Selbst­ver­ständ­lich­keit drei ande­re Tau­cher­ge­stal­ten in Neo­pren und Aus­rü­stung auf­tauch­ten und mir ent­ge­gen, an mir vor­bei zogen, um in einem Gebäu­de der Deut­schen Lebens­ret­tungs­ge­sell­schaft zu ver­schwin­den. Ich ver­blieb eini­ger­ma­ßen baff.

Die­ser so schlicht und neben­bei voll­zo­ge­ne Grenz­ver­kehr erweck­te in mir die selt­sa­me Vor­stel­lung, als sei ich zufäl­lig Zeu­ge der Exi­stenz einer ver­bor­ge­nen Par­al­lel­welt, so als wür­den dort, prin­zi­pi­ell außer Sicht, Tau­cher­ge­stal­ten die Men­ge unter Was­ser unbe­kann­ten Beschäf­ti­gun­gen nach­ge­hen, hun­der­te, über die ich die let­zen Tage hin­weg­ge­glit­ten war, und die sogar mit dem Lan­de in ganz gewöhn­li­chem Ver­kehr stan­den, wäh­rend sie wegen ihres lapi­da­ren Ver­hal­tens für unser­ei­nen nor­ma­ler­wei­se unter der Bewußt­seins­schwel­le und folg­lich unent­deckt blie­ben. Und dann noch die gera­de­zu traum­haf­te Ver­quickung mit der Gesell­schaft der Lebens­ret­ter. War ich die gan­ze Zeit in den Wel­len und Win­den dort drau­ßen von Neo­pren­schutz­en­geln beob­ach­tet wor­den, ich und mei­ne schlan­ke Nuß­scha­le und unter mir unsicht­bar die TAUCHER bereit mich jeder­zeit del­phin­gleich auf­zu­neh­men und an Land zu brin­gen, falls ich schei­tern soll­te?