Epiphaniesalz
»Bengelige Engel« – Vasenputten & Fensterbank
Birgit Matter: Der Salzanlage Eigenwill
2022-03-22 die glasierte beige Vase (Keramik), am oberen Rand mit den zwei «Raffael Engeln-der-Sixtina». ((Die Botschaft der puttigen #Filous ist hochaktuell: sie bringen keinen Cent ein. „Niemand stellt triviale Fragen dazu, was die Engel machen.“ Dafür sind die #Engel der Höhepunkt Raffaels künstlerischer #Unabhängigkeitserklärung und #Emanzipation. So souverän hat keine Putte je geschlingelt, geschweige denn als #Puttenpaar. In der strengen Symmetrie des Bildes wetteifern sie, wer sich lässiger auf die Fensterbank fleezt. So haben die Engel auch als global verbreiteter #Nippes noch diese wertvolle Aufgabe und Funktion. Jede bis heute einkömmliche #Reproduktion dieser beiden himmlischen Boten sagt uns: »Sei emanzipiert, sei souverän, mach es dir erst einmal bequem!«.)) – am oberen Rand, bis zum oberen Rand: Traditionell mit Salzkörnern Marke, »Urmeersalz aus dem Zechsteinmeer«, sowie Leitungswasser norddeutscher Herkunft gefüllt: entstand im Februar 2022 die Salzungsanlage »Putten«.
Die Vase erhielt einen hoffnungsfrohen Standort im östlichen Wohnzimmerfenster des Hauses. Salz krustete und sah verdorben genug aus, daß Mutter meinte, Weißen Schimmelpilz zu sehen, so eklig wie giftig, schleunigst jedenfalls zu entsorgen. Das geschah. Ohne Rücksprache, ich war ja abwesend, der Fall dringend, kurz also entschlossen, Gummihandschuhe und Schutzmaske in Blau&Grün ging’s mit der Vase in den schwarzen dreckhaltigen Müllcontainer. Fast lautlos schloß sich über der Salzungsanlage der Deckel. Man kennt den Mechanismus: »Kunst kommt weg.« Die schöne Salzung, die puttige Vase – wurden dann doch aus ihrer schmutzigen Lage befreit. Ich kam zurück, die Müllabfuhr zu spät.
Schwer kontaminiert, tagelang im Hausmüll, mit dem Dreck ging leider auch das Salz. Beides ließ sich problemlos unter dem Kran abwaschen, vergurgelte sich Richtung Kläranlage. Die Vase wurde, sauber, aber nicht mehr so hoffnungsfroh wie vordem, auf jenen Platz im östlichen Wohnzimmerfenster gestellt, vergessen. Tatsächlich währenddessen fielen wärmend, rosig leuchtend Morgensonnenstrahlen auf die Putten und die leere, trocknende Vase.
Und dann der Clou. So leer, so desillusioniert – was die Salzung betraf, fügte sich dem immer erstaunlichen Verhalten von Salzwasser ein neues hinzu. Trocknend zogen sich Lakereste, wo/wie auch immer sie noch mit den Gefäßwänden verbunden gewesen, zu erneuter Ausblühung über die Oberflächen, innen wie außen: filigran, netzartig, in Schichten, Verdunstung, Zimmerluft, staunende Augen.
Re-Auratisierung.
von mir nachgeschrieben, hier Original
Ich gehe davon aus, daß die Salzschicht aus dem Krakelee entspringt. Man erkennt deutlich dessen netz- oder wabenförmige Struktur. Aus deren Kreuzungspunkten wird sich über stilartige, Lake nachziehende Auswüchse, die zweite, auf den Stilchen wie auf Säulchen frei schwebende Salzschicht gebildet haben. Es muß einen wunderbaren Anblick gegeben haben, als diese Salzausblühung noch intakt war. Ich weiß aus der Erfahrung mit den Salzstalagtiten der Vexat Salzungsanlagen in der Hamburger U‑Bahn, wie empfindlich dünnwandige Salzstrukturen sein können. Bei erster, sozusagen schon nur Berührungsabsicht zerfallen sie.
Wikipedia erwähnt eine Deutung des Gemäldes, »Sixtinische Madonna«, von dem die Putten bzw. Eroten am oberen Vasenrand stammen, als Epiphanie. »Die geistige Welt tritt dem Betrachter entgegen.« Gekonnt wären die irdische und die himmlische Sphäre, im Bild zusammengefügt. Hier, m.E., zeigt die Salzung das Geistige und Himmlische der irdischen Welt und ihre Fruchtbarkeit aus dem Dürftigsten und quasi aus dem Nichts heraus.
Die Putten, dienstbare Geister werden als Eroten, Begleiter des Amor, gedeutet. In Begleitung der Hl.Jungfrau, untätig, gelangweilt, auf Schabernack sinnend, ihre Interessen sind übel betroffen: ein primär-konkretes Stoffornament entsteht und zerfällt.
Eros spielt mit seinen Möglichkeiten und seiner Macht. Er ist es, der die Welt und ihr Leben erhält und vorantreibt: hier im Moment der Erniedrigung, der Aufgabe, einer Sterilisierung und jenseits von Anlageabsicht und Hoffnung – schaut!
Den Raffael-Engelchen, inzwischen Kitschikonen und popkulturell inflationär ausgebeutet, entsteht unter Solebedingungen noch wieder einmal eine Chance. Das Bild Raffaels hält außer dem seligen Treffen – Heilige unter sich – den Verweis voraus oder zurück in die grause Leidensgeschichte, die dem BabyJesus blüht‑e, unterhält also ein Mitleid, im Bild durch die Engelchen, vor dem Bild durch die Gemeinde. Das Minenspiel der Engel spiegelt also auch ein Ojé und Ach, den Schmerz unter der Seligkeit. Das haben sie in der Popversion verloren; gänzlich bei den Engel-andeutungen am oberen Rand der Vase.
Die konkrete Salzung, ihre Situation und ihr Verlauf, sind durchwachsen – Vorgeschichte, Verhältnisse und anstehende Entwicklungen – von schmerzhaften Spannungen und Verlusten. So also ermöglicht jene »gipserne« Anspielung auf die Engel der Sixtina einen Übersprung der vollen Bedeutung auf Vase, Fensterbank, Elternhaus und Salzkriechen.
Der unwahrscheinliche, unerwartete Lake-Moment, sein Aufkeimen aus seiner Situation und grad ablaufendem Narrativ: Auf dem Fensterbrett, gewöhnlich Bühne für Zimmerpflanzen und Wohnlichkeitsnippes, ereignet sich eine Epiphanie materieller und geistiger Stofflichkeit und seiner Selbstorganisation – Orakel deutungsoffen.
Seine Einzigkeit in Zeit und Raum, setzt den alten auratischen Bann.
B.M.
Unter die Haut, von unter der Haut, exprimierende Sphären, Layer und ihre Abstände, ihre Umwelten, Wechselwirkungen, morphogenetische Felder, Interaktionssymbole quer aller Granularitäten, quer zu allen Stoffen und Organisationsformen, Dinge, Pflanzen, Tiere, Menschen, Gegenstände, Mischungen, Dünstungen … — Die Welt gegenseitiger Aneignungen lebt knisternd Schaum.
Schmelz, Tiefenglanz, was heraufdringt ist rauh&dringend. Kitsch, ich bin ambivalent, das Schillern von Oberflächentiefen, derart mächtig. Sogar die Moderne mythisiert sich. Routine statt Avantgarde.
Im Gespräch mit Birgit zeigte sich ihr heftiger Widerwille gegen’s Kitschige. Das betraf die Sixtinischen Engelchen, die Vase und schließlich auch meinen weißgoldenen Header hier auf der Seite. Es hat Inklusen gefühliger Sehnsüchte nach seliger Erlösung, mal niedlich mal erhebend: jedenfalls Fallen.
Soeben denk ich, »für die Schnittblumen sind die Engel am Vasenrand Todesengel. Im Abfall dann teilten diese das gewöhnliche Blumenschicksal.«
Man verpaßt, was man eigentlich braucht und will. Die Sinne betören, beschwichtigen. Scheinwelten schließen sich unentrinnbar Kannenpflanzen.
Epiphaniesalz aber war/ist kein Kitsch.
Eine Notblüte, deren volle Pracht ungesehen verging.
Kitsch / Krise
Kitsch ist eine Ästhetik, die Sehnsüchte weckt, sodann (absichtsvoll) nicht befriedigt, um im nächsten Zuge erneut sich zur Befriedung der Sehnsucht anzubieten und bezahlen zu lassen. Ein Geschäftsmodell. Der Zug der Sucht entgleist nie, kommt aber auch nie an. Kitsch ist perfektes Derailing. ein Zirkel–Schluß.
Es soll sich nichts verändern. Jahreszeiten, als seien sic ein Kreis [wie sehr auch dem die heutige Erfahrung widerspricht]. Kreis ist mytisch. Daß die Ernte immer wieder komme (der Frühling, der Nil, die Bisons). Man opfert, aber man verändert nichts.
Krise, die sich, Fliehkraft, aus Zirkeln losläßt, fortschleudert, Zukünften zufällt, blitzschnell im Rausch der Geschwindigkeit anbrandende Probleme bewältigt und bewältigt, … — Kitsch will Mythos, die Moderne sucht, erzeugt, surft die Schockwellen von Krisen.
Modern ohne Krisen geht nicht. Utopie, Orakel, Krakeleenetze, Gänseblümchen: Krisenzentren.
Glück ist flüchtig. Der ewige Lauf der Mühen ist stabil. Das Paradies zeugt Unbefriedigtes zeugt Unbefriedigendes, aus Not kommt Not. Scheinseligkeiten verkitschen das Sterben.
Eigentlich wäre Notwendiges nötig.
Ephemere Epiphanie. Schon wieder anders: …
Suchbild
suchen … finden
Trümmerfeld. Suchen und Finden. Finden ohne suchen. Ganz am Anfang des Videos rutscht, also kurz sichtbar, dann ist das Fenster schon weiter, rutscht der Salzungssplitter aus dem Bild. Ein Erkennen im Augenwinkel: »#geopPattern!« Die Entdeckung, mehr ein Mustererkennverdacht kommt im #Kunsttalk (1:47:30) zur Sprache. Ich bleib dann dran, bekomme Originalmaterial und sieh da, der Proof erbringt ein vielsagendes Ergebnis.
Und die Epiphaniesalzung setzt sich fort und zieht weiter, fast schon ein neues Projekt. Noch o.T. irgendwas mit Umriß ausfüllen, hineinwachsen, entkommen, ansaugen des Betr ah! chters … einen Abzweig ad Patternwucherung herauslesen, hineinsehen, aufpfropfen, veredlen: Anschein als stoffliche Kommunikation – wenn »nicht paßt« als Vorstufe zu neu, was sagt es denn ? Erfahrung überholt? »Fast« und »beinah« als Kreativwerte?