Zu der Zeit wohnten wir in Essen. Ich ging noch nicht zur Schule, brauchte auch nicht mehr in den Kindergarten. (Per Fluchtversuch hatte ich das abgeschafft.) Vielleicht war ich vier, vielleicht fünf, ende/anfang. Mein Vater hatte einen Kasten gebaut, in den wir die Fülle unserer Legosteine einsortieren konnten. Es gab damals noch nicht viele Sorten. Zweier, Vierer, Achter, Dachziegelsteine, sogar Fenster, von den Einern gab es runde oder eckige, Bodenplatten, und ein paar wenige Sondersteine, seltsam, ich weiß nicht mehr welche. Ich weiß aber, daß ich begeistert baute und baute. Alles. Alles lag gewöhnlich in Haufen auf dem Boden des Kinderzimmers. Einzelne Steine, Abrißbruch von aufgelassenen Bauten, ich fand mich inmitten gut zurecht.
Dann war da der Kasten. »Legokasten«. Vater hatte ihn selbst gebaut, vonwegen Ordnung im Kinderzimmer. Mit Fächern. Die Steine darin sollten nach ihren Eigenschaften geordnet werden; nicht nach Farben, sonden nach den Noppen, aber auch Nutzungen, z.B. Fenster, Bedruckte (»Tankstelle«), o.ä.
Ich erinner mich, daß ich darunter litt, wenn ich meine Bauwerke wieder auseinander nehmen mußte. Wenn wir auch viele Steine hatten, so aber nie genug. Außerdem blieben mir die Steine ihren Gebäuden verhaftet. Oder umgekehrt, es hafteten diese an den Steinen. Irgendwie, denn sie waren doch alle gleich, blieb ein Stein, den ich soeben für das Schloß verwendet hatte, ein Schloß und gehörte eigentlich in ein Fach: Schloß. Nun aber wurde er in einen Bahnhof einbaut zu einem Bahnhof oder in einem Auto ein Auto, oder eine Figur, oder, oder. Ich mochte oder konnte diese wiederverwendbaren Bauelemente nicht aus ihrer Baugeschichte nehmen. Natürlich verlor ich im weiteren den Überblick. Meine Verwirrung war so sichtbar, wie rätselhaft.
Natürlich wurde mir geraten. Ist doch einfach! Hier mit vier Noppen, dort Sechser. Das versetzte sie zurück in einen »Wie-Neu« Zustand. Quasi. Ich glaube nicht, daß jemand meine Verlorenheit bemerkte. Da waren die Steine, nun pur, und da war ich – von mir abgestreift fortgespült die Baugeschichten-Phantasieschaum-Spielflockendebris – ausgebleicht. Aber indem ich verschwand konnte ich nicht aufhören zu bauen.
Aufräumen war das Qualstichwort jeden Tages. Aus den Augen, aus dem Sinn. Man hielt mich für unordentlich. Ich war im um und um falten der schwindenden Muster wie träumend. Meine Langsamkeit machte, daß ich später ein Jahr länger in die Volksschule gehen mußte. Der Junge war noch nicht so weit. Dann kam das Gymnasium.
Es ist etwas mit den Setzkästen, die man die siebziger, achtziger Jahre zu Hauf aus den Druckereien warf, seltsam, wenn anstelle der Schrifttypen nun Krimskrams bedeutsam die Fächer füllte. Das ist nur gerecht. Plötzlich freigeweht diese Schicht, dieser Horizont, die über den Elementen evolvierenden Landschaften. Aber natürlich brauchte ich solche Kästen nicht.
Umbauen war für mich leichter, als Neumachen. Vom Schloß an die Tankstelle abgeben leichter, wenn gleich traurig. Das Schwinden … aber immerhin verwandelnd in Anderes Etwas, sogar oft Ungeahntes. Denn ich hatte es bald über, Vorbildern nach zu bauen und machte seltsam…-ere…-ste Konstrukte. Die zu verlieren schmerzte jeweils deutlich mehr. Mich wundert heute, daß ich nicht aufgegeben habe. Ich sehe mich noch mit siebzehn im Jugendhaus wie ich, während ich auf Kinder aufpaßte – von den Eltern während des Kirchgangs hiergelassen – mitspielend vom Sog der Legosteine eingefangen wurde, selbstvergessen wie die Kinder. Oft über die Zeit hinaus, dann allein auf dem Sinnmeer.
Was hat mich befreit? Nichts. Mir geht es noch immer so. Nur hat sich das Feld geweitet. Die Schule spätestens brachte Zeichnen und Schreiben. Fräulein Becker ließ uns »Haus, Füllhalter, Blume« schreiben und gleich daneben »malen«. Das war das glückliche erste Halbjahr. Dann zogen meine Eltern von Essen weg ins Kaiserreich, und es herrschte, Frau Roer, also Sütterlin auf Schiefertafel.
Mir geht es noch immer so. Ein Beispiel hat es in der Phase, in der ich auf Karteikarten arbeitete. A6-Graphik. Ein Unordnungssystem. Während anderswo, von Arno Schmidt bis Luhmann, die ausgefeiltesten Karteikarten-Such&Entscheidungsordnungen bewundert wurden, schrieb ich lose A6-Stücke. Karten aus 200gr Papier tragen je eine Zeichnung, ein aufmontiertes Photo, eine Bemerkung, eine Formel, ein Stück Text, welches, wenn lang, auf nächster Karte weitergeführt wird. (Alle Lettern mit der schweren Triumph meiner Tante getippt.) Langtexte werden bis eng an den Rand geschrieben, Staben, Einschläge, und mit den folgenden/vorhergehenden nicht verbunden. Karteikasten voll, der unzusammenhängende Korpus aus postkartengroßen Korpuskeln. Nur der Inhalt, oft nur dessen Gehalt, hält sie zusammen. Zufällig, nach Belieben, auch gleichgültig, möglich eben sogar belanglos. Wie geworfen, wohinein? In die Zwischenform; fragiler Spaltmacher, Abstandwahrer, Trennmoment, die Leere zwischen den einzelnen Items. Rekombinierer. Ich empfinde immer diese Leere, die Freiheit bedeutet, mit.
Jedoch, hat die Leere gleichsam Casimirkräfte, nirgends in den Kästen kann es nackte Funktion geben. Monadenperformances der entspringenden Sorte. Ein Lächeln.
kar teil ego