Promenadenkonzert
Renovierte Differenzen
Motivgruppierungen Links:
(Beiheft, pdf 6,4MB) · (Ablauf der Handlung, pdf 1,2MB) · (Tafel: Objekte, Details vom Aufbau, pdf 1,5MB) · Partiturliste pur (pdf 100KB) · Aufsatz „Verdinglichung“ (pdf 60KB) · Kurt Rossa · · ·
„Promenadenkonzert“, Performance renovierter Differenzen; Uraufführung, Ateliergemeinschaft Hahler Straße, Minden.
– Öffentlichkeit ist widerlich, tatsächlich kann man nicht nicht kommunizieren.
11.1989 das Beiheft, »Promenadenkonzert« erscheint als 5. Aufführung. Bis Stand 1992 hatte es Aufführungen in Hamburg Farmsen, Lübeck, Bielefeld, 2x in Lüneburg, Hardehausen.
1940 — Das Fallbeil fällt auf den Nacken des Delinquenten zu | Schlag, es steckt fest, 5 cm über dem Hals.
Rituale sollen die Zeit anhalten, den Wechsel der Umstände beruhigen, die Geschichte verdinglichen. Der Unruhe letzter Rest windet sich zum Ring, Kanal, in dem sie immerwährend und verläßlich um&um, statt zu fließen steht.
Eine Guillotine wird eingesetzt. Ein innerer Mechanismus macht ihren Fall zufällig. Ein Senkblei jagt die Senkrechte hinunter. Durchschlägt es oder nicht? Unentscheidbarkeit. Halt! Im Augenblick des Auslösens, in der Spanne des Falles stockt die Zeit. In die Fallhöhe paßt ein Moment Ewigkeit. Dann kommt der Absturz oder nicht. Kein Hals unter dem Fall — da ist nur eine 2 mm dünne Glasscheibe, die Realität, das Horizontale, die Welt, der Ast auf dem ich, auf dem jeder hockt. Hin-gerichtet werden alle. Wohin gerichtet? Aus-gerichtet! Wann endlich ist ausgerichtet? Transreal, areal.
Promenadenkonzert, Konzert, bei dem das Publikum spaziert, sich ausbreitet, sich ausführt, promeniert, neugierig und allein um sich blickt und sich umhört, auch bisweilen Platz nimmt, da es sich unterhält und auch ansonsten seine Abwesenheit zur Schau stellt.
Promenadenkonzert, Konzert, bei dem der Künstler spaziert, sich ausbreitet, sich ausführt, promeniert, neugierig und allein um sich blickt und sich umhört, auch bisweilen Platz nimmt, da er sich unterhält und auch ansonsten seine Abwesenheit zur Schau stellt.
— Die Verachtung (1)
Musik für zwei Stimmgabeln und den direkten Weg zum Ohr des Künstlers
– Der Künstler speist (1. Konsequenz), Tischmusik zum Sattwerden:
· Aperitiv – Sherry
· Hors d’oevre – Salat
· Menu – Fleisch, Kartoffeln, Soße, Karotten, Erbsen
· Dessert – Götterspeise
· Digestiv – Sekt
+ das Grübeln – die Nacht, das Wasser
+ das Kind – mit Murmelspiel
+ Trinkgeld
— Die Verachtung (2),
Musik für Stein und Cellobogen, hoffnungslose Erinnerung an die Fähigkeit des Musiker Orpheus, Steine zu Weinen zu bringen.
— Die Angst
Musik zur Irritation eines Fisches.
— Die öffentliche Selbsthinrichtung des Künstlers (2.Konsequenz),
Musik für Glas und Guillotine und das Ende der Vorstellung.
[Für Erik Satie]
Er, der Künstler, betritt den Weißen Kubus. Er läßt Straßenschuhe und Armbanduhr zurück. Er steigt ein auf die Partitur der wartenden Dinge. Ab jetzt gilt es, gesehen zu werden. Im Nebeneffekt wird gelegentlich Geräusch entstehen, abgeleitetes. Musik darf man sagen. Das Kabel füttert einen einfachen Verstärker, der verclubbt in öffentliche Ohren. Einweg.
Was das Photo nicht zeigt, das sind die beiden Stimmgabeln, A & B. Besonders die sieht man nicht, die in seinem Mund, zwischen den Schneidezähnen festgehalten wird. Er beißt mit aller Kraft. Die Stimmgabel, sobald sie aufhört zu schwingen, schlägt er auf einem Kunststoffpolster immer neu an. Ihr reiner Ton wird von den Zähnen über die Knochen in sein Ohr übertragen, tatsächlich allein in sein Ohr. Er hört sie laut und dann langsam verebben.
Der Künstler jongliert sein Menu. Was ihm vom Teller fällt, aus dem Glas, aus der Hand, das gilt als gegessen. Er hungert nicht, seinen Appetit und seinen Bauch füttert er mit den Allegorien seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten. Wie geschickt er ist, sogar, wenn gegessen, spielt er kosmisch am Boden mit den Planiten Murmel.
Schwere Striche, rasselnder Atem, pochendes Herz, schabende Nerven – der Streicher denkt an Cage im schalltoten Raum. Wie der glücklich war, unter den neu entdeckten, von keiner äußeren Quelle überspülten inneren Klängen, daß nie ihm das Material musikalischer Realisationen würde ausgehen können, solange er lebe. Man hört nichts, dennoch schwingt die Marmorplatte. Sogar dies unhörbare Geräusch wird von einem Kontaktmikro unter dem Tisch aufgenommen, abgeleitet.
Das Mikro nimmt sogar das unhörbare Schreien und Jaulen (gequälte Katze) des Marmors auf und entsorgt es nach draußen. Der Goldfisch duckt sich ob der Unruhe auf den Boden der Kugel, ohnehin tarnt ihn bald die goldrote Farbe des Wassers. Der Künstler zieht mit nackt nassen Fingern über die Marmorkante um den Tisch. Er nimmt Cochenillerot aus dem Napf, er kühlt die Fingerspitzen im Wasser. Er malt. Drippings. Expression rotes Moorwasser, in dem er mal schwamm.
Mit hängenden Schultern,unbeholfener Haltung, den Kopf gesenkt, die roten Flecken, die rote Tischkante, »Was hat der Künstler getan?«, bisher. Ist dies ein Ritual, setzt es sich konsequent fort, Verrichtung folgt auf Verrichtung. Dinglich dringlich.
Die Glasplatte ist dünn, 2mm. Solch ist in Bilderglasrahmen, wie leicht das bricht weiß er. Er legt sie vorsichtig auf ihre gummigepufferten Widerlager. Er weiß, wenn sie bricht, dann fliegen Scherben der gefährlichen Art. Dann stürzt die Maschine unberechenbar, die Pyramiden fallen mit. Es hängt von vielem ab. Welche Spannungen im Glas, welche Wucht im Schlag, viele Unbekannte darin – dieser Untergrund ist echt ein Risiko.
Die Maschine scheint zu schweben und ist nach unten offen.
Oft ist die Maschine zunächst verhüllt. Er stellt sie, die noch verhüllte, mit ihren breiten Füßen auf die Glasplatte. Dann zieht er das weiße Tuch weg, stößt das Metronom an, langsam zögernd im Takt, ensperrt, senkt das Lot, Test, beschleunigt das Taktell, rasend, ein Krach —
— jetzt zieht er das Lot zum Auslöser. Er weiß nicht, wann der Halter öffnet. Wo soll er hinschauen, zum Lot, wie es in seinen Fall stürzt, oder zur Glasplatte, ob sie hält, ob sie besteht, ob sie sich von der Spitze küssen läßt, aber nicht explodiert. Er schließt die Augen.
Öffentlichkeit ist widerlich! Tatsächlich kann man nicht nicht kommunizieren.
Mindestens wird man beobachtet. Das Publikum stöbert, kaum ist man da, schon im Mutterbauch nach den ersten Lebenszeichen, und, sind die letzten längst ausgelebt, verfolgt es noch die Leiche. Aus allem zieht es seine Schlüsse. Man kann nicht anders, als ihm etwas zu bedeuten. Wohin fliehen? Im schalltoten Raum, einem wahren Grab, hörte John Cage doch noch zwei Töne, das dunkle Rauschen seines Blutes und das helle Sirren seiner Nerven. Indem er atemlos hinhörte, begegnete ihm, abgeschieden von allen anderen Zuhörern, dieser eindringlichste Lauscher, der Cage selbst ist. Glücklicherweise hat er dem Drang, sich selbst Publikum zu sein, nicht länger nachgegeben, als er brauchte, um sich zu überzeugen, daß ihm zeitlebens Hörbares als Gestaltungsmaterial nicht würde ausgehen können.
Allerdings gibt es von denen übergenug, die sich in der Selbsterforschung erschöpfen. Sich selbst Publikum, meinen sie, sich selbst zu durchschauen und auch für andere transparent werden zu können. Scheinbar kommen sie in den Genuß grenzenloser Veröffentlichung. Das makabere Wort dafür ist „Selbstausdruck“. Aber so, wie Selbstbeherrschung die selbstdurchgeführte Herrschaft anderer ist, so ist Selbstausdruck doch nur ein Ausgedrücktwerden, das man selbst betreibt. Das Selbst aber entgeht dieser Zwangsveröffentlichung. Wer sich nämlich dem Blick des Publikums ergibt und dessen Zudringlichkeit selbst weitertreibt, schlägt sich mit dessen Blindheit für alles Konkrete und Individuelle. Das Publikum will Durchblick, es erträgt das Fremde, Undurchschaubare nicht, es muß erklären, was opak ist, will unter die Oberfläche und bis in die Tiefe die vollkommene Zurichtung aufs vorgeprägte, allgemeine Verständnis. Ohne die Annahme, daß sich auf der Oberfläche ausdrückt, was darunter vorgeht, wäre Erklären ohnmächtig. Noch der rätselhafteste Ausdruck muß demnach versichern, daß die Oberfläche der Welt, das nämlich, was der Erfahrung konkret begegnet, eine Grenze darstellt, die nur errichtet ist, um geöffnet und überschritten zu werden und so eine Übereinstimmung herbeizuführen, die durch die Grenze bloß vorübergehend gestört war. Diese Versicherung taugt nicht. Das Konkrete einerseits läßt sich an‑, nicht durchschauen, andererseits ist Individuelles Ergebnis aktiver Einteilungen; während das Konkrete durch Unzugänglichkeit seine Autonomie behauptet, verweist Individuelles auf einen Produktionsprozeß, in den auch das Erklären als ein Moment verwickelt ist. Was dem Erklären als Ausdruck von der anderen Seite der Grenze entgegenzukommen scheint, ging vorher von ihm aus und kommt nun gebrochen von dort zurück. Das Erklären blickt in einen Zerrspiegel, statt dessen Rückseite zu durchdringen. Und wem ist schon der Spiegel wichtig? Als bloßes Indiz, von dem man sich abwendet, um dessen angeblichen Hinweisen zu folgen, entgeht dem Publikum das Konkrete: die opake, vieldimensionale und unendlich sich faltende, brechende „Fläche“ der Welt. Also wäre dort die Zuflucht, zu der das Publikum nicht gelangt, der Ort für das Selbst? Ja, denn ein allgemeines Selbst gibt es nicht, es gibt nur individuelle Muster im Konkreten. Am undurchsichtigsten ist der Spiegel, wie aber kommt man auf seine andere Seite? Nun, man nimmt und wendet ihn – hin und her.
„Ihr werdet nie“, sage ich zum Publikum, „erfahren, wie ich wirklich bin!“ – antwortet der Chor: „Dann machen eben wir Dich zu Dir selbst, Deine Wirklichkeit stellen wir uns her!“ —
— erwidere ich: „Nun endlich können wir beginnen, machen wir uns gegenseitig, wir werden uns wundern. Aber Ihr seid mein Publikum gewesen.“ –
Materialiensammlung:
1. Beiheft zur Performance, Konzeptdarstellung (pdf 6,5MB)
Das Heft faßte ich damals nicht bloß als Programm oder Dokumentation auf sondern als eigenständige Performance, die fünfte Vorführung:
Das Heft selbst ist jene 5. Vorführung.
Weniger mächtig, könnte man meinen, aber der Mangel an unmittelbarem Thrill gegenüber der Live-Hinrichtung wird durch Einflössen einer unbekömmlichen Latenz an alle Besucher nicht nur wettgemacht, sondern sogar virulenter. Das Glas der Struktur die Kehle runter, die Nerven hoch. Man merkt es nicht.
Von allen Seiten strömen die Leute, am Ende geht es darum, die Realität zu exekutieren …
2. Zeitlinie der Performance in Bild und Text, Graue Linie (pdf 1,2MB)
Photos und Texte in der Reihenfolge des Ablaufes.
3. Phototafel: die Objekte, die Situation (pdf 1,5MB)
Photos der Gegenstände und der Anordnung, Anmerkungen.
4. Partiturliste pur (pdf 100KB)
Im Beiheft, auf den Innenseiten des Umschlages, findet sich die Partitur der Performance in Form einer eng und absatzlos gesetzten Checkliste. Hier als Tabelle.
5. Aufsatz „Verdinglichung“ (pdf 60KB)
Herausnahme aus dem Heft.