Pro­me­na­den­kon­zert

Reno­vier­te Dif­fe­ren­zen

27.5. 1987

„Pro­me­na­den­kon­zert“, Per­for­mance reno­vier­ter Dif­fe­ren­zen; Urauf­füh­rung, Ate­lier­ge­mein­schaft Hah­ler Stra­ße, Min­den.
– Öffent­lich­keit ist wider­lich, tat­säch­lich kann man nicht nicht kom­mu­ni­zie­ren.

11.1989 das Bei­heft, »Pro­me­na­den­kon­zert« erscheint als 5. Auf­füh­rung. Bis Stand 1992 hat­te es Auf­füh­run­gen in Ham­burg Farm­sen, Lübeck, Bie­le­feld, 2x in Lüne­burg, Har­de­hau­sen.

1940 — Das Fall­beil fällt auf den Nacken des Delin­quen­ten zu | Schlag, es steckt fest, 5 cm über dem Hals.

Ritua­le sol­len die Zeit anhal­ten, den Wech­sel der Umstän­de beru­hi­gen, die Geschich­te ver­ding­li­chen. Der Unru­he letz­ter Rest win­det sich zum Ring, Kanal, in dem sie immer­wäh­rend und ver­läß­lich um&um, statt zu flie­ßen steht.

Eine Guil­lo­ti­ne wird ein­ge­setzt. Ein inne­rer Mecha­nis­mus macht ihren Fall zufäl­lig. Ein Senk­blei jagt die Senk­rech­te hin­un­ter. Durch­schlägt es oder nicht? Unent­scheid­bar­keit. Halt! Im Augen­blick des Aus­lö­sens, in der Span­ne des Fal­les stockt die Zeit. In die Fall­hö­he paßt ein Moment Ewig­keit. Dann kommt der Absturz oder nicht. Kein Hals unter dem Fall — da ist nur eine 2 mm dün­ne Glas­schei­be, die Rea­li­tät, das Hori­zon­ta­le, die Welt, der Ast auf dem ich, auf dem jeder hockt. Hin-gerich­tet wer­den alle. Wohin gerich­tet? Aus-gerich­tet! Wann end­lich ist aus­ge­rich­tet? Trans­re­al, are­al.

Pro­me­na­den­kon­zert, Kon­zert, bei dem das Publi­kum spa­ziert, sich aus­brei­tet, sich aus­führt, pro­me­niert, neu­gie­rig und allein um sich blickt und sich umhört, auch bis­wei­len Platz nimmt, da es sich unter­hält und auch anson­sten sei­ne Abwe­sen­heit zur Schau stellt.

Pro­me­na­den­kon­zert, Kon­zert, bei dem der Künst­ler spa­ziert, sich aus­brei­tet, sich aus­führt, pro­me­niert, neu­gie­rig und allein um sich blickt und sich umhört, auch bis­wei­len Platz nimmt, da er sich unter­hält und auch anson­sten sei­ne Abwe­sen­heit zur Schau stellt.

 — Die Ver­ach­tung (1)

Musik für zwei Stimm­ga­beln und den direk­ten Weg zum Ohr des Künst­lers

– Der Künst­ler speist (1. Kon­se­quenz), Tisch­mu­sik zum Satt­wer­den:

· Ape­ri­tiv           – Sher­ry

· Hors d’oevre   – Salat

· Menu                – Fleisch, Kar­tof­feln, Soße, Karot­ten, Erb­sen

· Des­sert             – Göt­ter­spei­se

· Dige­stiv            – Sekt

+ das Grü­beln   – die Nacht, das Was­ser

+ das Kind          – mit Mur­mel­spiel

+ Trink­geld

— Die Ver­ach­tung (2),

Musik für Stein und Cel­lo­bo­gen, hoff­nungs­lo­se Erin­ne­rung an die Fähig­keit des Musi­ker Orpheus, Stei­ne zu Wei­nen zu brin­gen.

— Die Angst

Musik zur Irri­ta­ti­on eines Fisches.

— Die öffent­li­che Selbst­hin­rich­tung des Künst­lers (2.Konsequenz),

Musik für Glas und Guil­lo­ti­ne und das Ende der Vor­stel­lung.

[Für Erik Satie]

Er, der Künst­ler, betritt den Wei­ßen Kubus. Er läßt Stra­ßen­schu­he und Arm­band­uhr zurück. Er steigt ein auf die Par­ti­tur der war­ten­den Din­ge. Ab jetzt gilt es, gese­hen zu wer­den. Im Neben­ef­fekt wird gele­gent­lich Geräusch ent­ste­hen, abge­lei­te­tes. Musik darf man sagen. Das Kabel füt­tert einen ein­fa­chen Ver­stär­ker, der ver­clubbt in öffent­li­che Ohren. Ein­weg.

Was das Pho­to nicht zeigt, das sind die bei­den Stimm­ga­beln, A & B. Beson­ders die sieht man nicht, die in sei­nem Mund, zwi­schen den Schnei­de­zäh­nen fest­ge­hal­ten wird. Er beißt mit aller Kraft. Die Stimm­ga­bel, sobald sie auf­hört zu schwin­gen, schlägt er auf einem Kunst­stoff­pol­ster immer neu an. Ihr rei­ner Ton wird von den Zäh­nen über die Kno­chen in sein Ohr über­tra­gen, tat­säch­lich allein in sein Ohr. Er hört sie laut und dann lang­sam ver­eb­ben.

Der Künst­ler jon­gliert sein Menu. Was ihm vom Tel­ler fällt, aus dem Glas, aus der Hand, das gilt als geges­sen. Er hun­gert nicht, sei­nen Appe­tit und sei­nen Bauch füt­tert er mit den Alle­go­rien sei­ner Bedürf­nis­se und Fähig­kei­ten. Wie geschickt er ist, sogar, wenn geges­sen, spielt er kos­misch am Boden mit den Pla­ni­ten Mur­mel.

Schwe­re Stri­che, ras­seln­der Atem, pochen­des Herz, scha­ben­de Ner­ven – der Strei­cher denkt an Cage im schall­to­ten Raum. Wie der glück­lich war, unter den neu ent­deck­ten, von kei­ner äuße­ren Quel­le über­spül­ten inne­ren Klän­gen, daß nie ihm das Mate­ri­al musi­ka­li­scher Rea­li­sa­tio­nen wür­de aus­ge­hen kön­nen, solan­ge er lebe. Man hört nichts, den­noch schwingt die Mar­mor­plat­te. Sogar dies unhör­ba­re Geräusch wird von einem Kon­takt­mi­kro unter dem Tisch auf­ge­nom­men, abge­lei­tet.

Das Mikro nimmt sogar das unhör­ba­re Schrei­en und Jau­len (gequäl­te Kat­ze) des Mar­mors auf und ent­sorgt es nach drau­ßen. Der Gold­fisch duckt sich ob der Unru­he auf den Boden der Kugel, ohne­hin tarnt ihn bald die gold­ro­te Far­be des Was­sers. Der Künst­ler zieht mit nackt nas­sen Fin­gern über die Mar­mor­kan­te um den Tisch. Er nimmt Cochen­ill­erot aus dem Napf, er kühlt die Fin­ger­spit­zen im Was­ser. Er malt. Drip­pings. Expres­si­on rotes Moor­was­ser, in dem er mal schwamm.

Mit hän­gen­den Schultern,unbeholfener Hal­tung, den Kopf gesenkt, die roten Flecken, die rote Tisch­kan­te, »Was hat der Künst­ler getan?«, bis­her. Ist dies ein Ritu­al, setzt es sich kon­se­quent fort, Ver­rich­tung folgt auf Ver­rich­tung. Ding­lich dring­lich.

Die Glas­plat­te ist dünn, 2mm. Solch ist in Bil­der­glas­rah­men, wie leicht das bricht weiß er. Er legt sie vor­sich­tig auf ihre gum­mi­ge­puf­fer­ten Wider­la­ger. Er weiß, wenn sie bricht, dann flie­gen Scher­ben der gefähr­li­chen Art. Dann stürzt die Maschi­ne unbe­re­chen­bar, die Pyra­mi­den fal­len mit. Es hängt von vie­lem ab. Wel­che Span­nun­gen im Glas, wel­che Wucht im Schlag, vie­le Unbe­kann­te dar­in – die­ser Unter­grund ist echt ein Risi­ko.

Die Maschi­ne scheint zu schwe­ben und ist nach unten offen.

Oft ist die Maschi­ne zunächst ver­hüllt. Er stellt sie, die noch ver­hüll­te, mit ihren brei­ten Füßen auf die Glas­plat­te. Dann zieht er das wei­ße Tuch weg, stößt das Metro­nom an, lang­sam zögernd im Takt, ensperrt, senkt das Lot, Test, beschleu­nigt das Takt­ell, rasend, ein Krach —

— jetzt zieht er das Lot zum Aus­lö­ser. Er weiß nicht, wann der Hal­ter öff­net. Wo soll er hin­schau­en, zum Lot, wie es in sei­nen Fall stürzt, oder zur Glas­plat­te, ob sie hält, ob sie besteht, ob sie sich von der Spit­ze küs­sen läßt, aber nicht explo­diert. Er schließt die Augen.

Öffent­lich­keit ist wider­lich! Tat­säch­lich kann man nicht nicht kom­mu­ni­zie­ren.

Min­de­stens wird man beob­ach­tet. Das Publi­kum stö­bert, kaum ist man da, schon im Mut­ter­bauch nach den ersten Lebens­zei­chen, und, sind die letz­ten längst aus­ge­lebt, ver­folgt es noch die Lei­che. Aus allem zieht es sei­ne Schlüs­se. Man kann nicht anders, als ihm etwas zu bedeu­ten. Wohin flie­hen? Im schall­to­ten Raum, einem wah­ren Grab, hör­te John Cage doch noch zwei Töne, das dunk­le Rau­schen sei­nes Blu­tes und das hel­le Sir­ren sei­ner Ner­ven. Indem er atem­los hin­hör­te, begeg­nete ihm, abge­schie­den von allen ande­ren Zuhö­rern, die­ser ein­dring­lich­ste Lau­scher, der Cage selbst ist. Glück­li­cher­wei­se hat er dem Drang, sich selbst Publi­kum zu sein, nicht län­ger nach­ge­ge­ben, als er brauch­te, um sich zu über­zeu­gen, daß ihm zeit­le­bens Hör­ba­res als Gestal­tungs­ma­te­ri­al nicht wür­de aus­ge­hen kön­nen.

Aller­dings gibt es von denen über­ge­nug, die sich in der Selbst­er­for­schung erschöp­fen. Sich selbst Publi­kum, mei­nen sie, sich selbst zu durch­schau­en und auch für ande­re trans­pa­rent wer­den zu kön­nen. Schein­bar kom­men sie in den Genuß gren­zen­lo­ser Ver­öf­fent­li­chung. Das maka­be­re Wort dafür ist „Selbst­aus­druck“. Aber so, wie Selbst­be­herr­schung die selbst­durch­ge­führ­te Herr­schaft ande­rer ist, so ist Selbst­aus­druck doch nur ein Aus­ge­drückt­wer­den, das man selbst betreibt. Das Selbst aber ent­geht die­ser Zwangs­ver­öf­fent­li­chung. Wer sich näm­lich dem Blick des Publi­kums ergibt und des­sen Zudring­lich­keit selbst weiter­treibt, schlägt sich mit des­sen Blind­heit für alles Kon­kre­te und Indi­vi­du­el­le. Das Publi­kum will Durch­blick, es erträgt das Frem­de, Undurch­schau­ba­re nicht, es muß erklä­ren, was opak ist, will unter die Ober­flä­che und bis in die Tie­fe die vollkom­mene Zurich­tung aufs vor­ge­präg­te, all­ge­mei­ne Ver­ständ­nis. Ohne die Annah­me, daß sich auf der Ober­flä­che aus­drückt, was dar­un­ter vor­geht, wäre Erklä­ren ohn­mächtig. Noch der rät­sel­haf­te­ste Aus­druck muß dem­nach ver­si­chern, daß die Ober­flä­che der Welt, das näm­lich, was der Erfah­rung kon­kret begeg­net, eine Gren­ze dar­stellt, die nur errich­tet ist, um geöff­net und über­schrit­ten zu wer­den und so eine Über­ein­stim­mung her­bei­zu­füh­ren, die durch die Gren­ze bloß vor­übergehend gestört war. Die­se Ver­si­che­rung taugt nicht. Das Kon­kre­te einer­seits läßt sich an‑, nicht durch­schau­en, ande­rer­seits ist Indi­vi­du­el­les Ergeb­nis akti­ver Ein­tei­lun­gen; wäh­rend das Kon­kre­te durch Unzu­gäng­lich­keit sei­ne Auto­no­mie behaup­tet, ver­weist Indi­vi­du­el­les auf einen Pro­duk­ti­ons­pro­zeß, in den auch das Erklä­ren als ein Moment ver­wickelt ist. Was dem Erklä­ren als Aus­druck von der ande­ren Sei­te der Gren­ze ent­ge­gen­zu­kom­men scheint, ging vor­her von ihm aus und kommt nun gebro­chen von dort zurück. Das Erklä­ren blickt in einen Zerrspie­gel, statt des­sen Rück­sei­te zu durch­drin­gen. Und wem ist schon der Spie­gel wich­tig? Als blo­ßes Indiz, von dem man sich abwen­det, um des­sen angeb­li­chen Hin­wei­sen zu fol­gen, ent­geht dem Publi­kum das Kon­kre­te: die opa­ke, vieldimen­sionale und unend­lich sich fal­ten­de, bre­chen­de „Flä­che“ der Welt. Also wäre dort die Zuflucht, zu der das Publi­kum nicht gelangt, der Ort für das Selbst? Ja, denn ein all­ge­mei­nes Selbst gibt es nicht, es gibt nur indi­vi­du­el­le Muster im Kon­kre­ten. Am undurch­sich­tig­sten ist der Spie­gel, wie aber kommt man auf sei­ne ande­re Sei­te? Nun, man nimmt und wen­det ihn – hin und her.

„Ihr wer­det nie“, sage ich zum Publi­kum, „erfah­ren, wie ich wirk­lich bin!“ – ant­wor­tet der Chor: „Dann machen eben wir Dich zu Dir selbst, Dei­ne Wirk­lich­keit stel­len wir uns her!“ —

— erwi­de­re ich: „Nun end­lich kön­nen wir begin­nen, machen wir uns gegen­sei­tig, wir wer­den uns wun­dern. Aber Ihr seid mein Publi­kum gewe­sen.“ –

mehr …

Mate­ria­li­en­samm­lung:

1. Bei­heft zur Per­for­mance, Kon­zept­dar­stel­lung (pdf 6,5MB)

Das Heft faß­te ich damals nicht bloß als Pro­gramm oder Doku­men­ta­ti­on auf son­dern als eigen­stän­di­ge Per­for­mance, die fünf­te Vor­füh­rung:

Das Heft selbst ist jene 5. Vor­füh­rung.

Weni­ger mäch­tig, könn­te man mei­nen, aber der Man­gel an unmit­tel­ba­rem Thrill gegen­über der Live-Hin­rich­tung wird durch Ein­flö­ssen einer unbe­kömm­li­chen Latenz an alle Besu­cher nicht nur wett­ge­macht, son­dern sogar viru­len­ter. Das Glas der Struk­tur die Keh­le run­ter, die Ner­ven hoch. Man merkt es nicht.

Von allen Sei­ten strö­men die Leu­te, am Ende geht es dar­um, die Rea­li­tät zu exe­ku­tie­ren …

2. Zeit­li­nie der Per­for­mance in Bild und Text, Graue Linie (pdf 1,2MB)

Pho­tos und Tex­te in der Rei­hen­fol­ge des Ablau­fes.

3. Pho­to­ta­fel: die Objek­te, die Situa­ti­on (pdf 1,5MB)

Pho­tos der Gegen­stän­de und der Anord­nung, Anmer­kun­gen.

4. Par­ti­tur­li­ste pur (pdf 100KB)

Im Bei­heft, auf den Innen­sei­ten des Umschla­ges, fin­det sich die Par­ti­tur der Per­for­mance in Form einer eng und absatz­los gesetz­ten Check­li­ste. Hier als Tabel­le.

5. Auf­satz „Ver­ding­li­chung“ (pdf 60KB)

Her­aus­nah­me aus dem Heft.