1954 55 59
Als ich noch in Essen lebte. Mein Bruder Ludger und ich in Herford geboren, mein Bruder Bernward noch nicht da. War ich drei, war ich vier?
Die erste Doppelung erinner ich, da waren meine Eltern in ihrem ersten Urlaub mit uns nach Holland gefahren, auf eine Insel. Ans Meer, der Strand.
Das Spielen im Sand, die Schaufeln, das Sieb, … und ein großer leichter, praller Wasserball – ich hatte ihn selbst aufgeblasen. Mein Wasserball. Mit ihm ins Wasser und wieder raus, toben, eingraben, und rein wieder in die Wellen, mit den Wellen, den Ball umschlungen.
Seltsam, daß mir der Wind nicht bewußt war. Vielleicht hielt ich den Ball gewöhnlich zu nah, an mir, in meine Spiele verwickelt, doch plötzlich, und ich begriff nicht, was da passierte, rollte er über den glatten Sand zum Meer hin, ins Wasser. Es hatte nicht mal große Wellen, aber sie schwangen den Ball hoch und hoch und. Er trieb ab. Ich lief und erreichte ihn nicht. Das Wasser aufeinmal tief und bedrohlich und dieser Ball, der wegtrieb. Ich stand und heulte. Ein Mann erbarmte sich und schwamm hinter dem Ball her. Sein dunkler Kopf in den Wellen, die hastigen Schwimmbewegungen; der Ball im Wind Spiel der Wellen, so viel schneller. Der Mann gab auf, tüchtig weit draußen, aber da war nichts zu machen. Wie untröstlich ich war. In den Armen meiner Eltern. Der Ball war verloren, aber am nächsten Tag kauften sie mir einen neuen.
Und nun das Gespenstige. Von heute her gesehen. Damals aber ein Schrecken, eine Art Betäubtsein, in mir so hohl, höhlend. Wieder der Wind, wieder der über den Strand laufende, hüpfende Ball, wie er sich im Wasser zunächst beruhigt, wie wenn angehalten, dann aber Fahrt aufnimmt über die Wellen. Wieder ich in Tränen zerfließend. Wieder ein Mann, wie er sich ins Wasser wirft, sein Kopf, der nun auf ewig uneinholbare Ball, die sich zwangsläufig weitenden Distanzen. Der Verlust. Der Verlust. Kaum Trost durch die Eltern, und noch einen neuen Ball bekam ich nicht.
Um die Zeit bekam ich endlich den ersehnten Roller aus Stahlrohr. Himmelblau. Luftbereifung. Ich muß vielleicht doch schon fünf gewesen sein. Nein, ich glaube doch nicht vier, oder Ende vier. Aber es war schon warm, und ich fuhr schon zum Spielplatz, selber. Ich konnte stundenlang dort sein. Die Sandkiste. Bauen, schaufeln, sieben, ein Junge hatte einen Lastwagen, den man kippen konnte. Mit der Harke Rillen in den warmen Sand. Versonnen häufte ich Sand auf meinen Roller. Gleich war er verschwunden, versunken. Das hatte was Spurloses. Ich strich den Sand glatt. Oh, ha. Die Zeit vergessen. Ich also zurück, kam atemlos an: mein Vater, »Wo ist der Roller?«. Ja, wo? In mir dies reißende Gähnen, dieses Hohlsein, wo! Rasend schnell zu zweit zurück zum Spielplatz, zur Sandkiste, graben, wühlen, mit bloßen Händen, mit denen meines Vaters. Hier? Nein hier? Nein, nein. Der Roller war nicht mehr da, nirgends. Er war weg.
Es folgten Tage, mindestens Tage, der Niedergeschlagenheit, ein »weg« das mich von innen auffraß, klaffend – und ich konnte den Moment der Vergessenheit nicht finden, bestimmen, nicht tilgen, nicht verstehen, was mir wiederfahren war. So winzig und so allumfassend, besonders diesen meinen unschätzbaren himmelblauen Roller. Meine Eltern erbarmten sich. Sie kauften, es kann ihnen nicht leicht gefallen sein, einen neuen.
Zweifel. Doch die Erinnerung ist klar. Die Sache passierte ein paar Wochen später wieder. Die Erinnerung ist klar, aber es gibt zwei Geschichten, die sich überlagern. In der einen, der evidenteren, spiele ich wieder mit dem Roller Vergraben, stehe auf, spiele woanders, kehre zurück, der Roller unauffindbar. Wie vom Boden verschlungen, wie ich, ab in die Tiefe. Schmerz, Scham, Verlust, Verlorenheit. In der anderen hat es mehr Betrieb, mehr Kinder, mehr Eltern, meinen Vater, mehr Geschrei. Der Roller an einer Bank abgestellt, jeder hier ist abgelenkt. Der Aufbruch nach Hause bringt die Suche nach dem Roller, die Erkenntnis, wieder ist der Roller unauffindbar. Zu schrecklich, als daß ich den Kopf, die Schultern hängen lassen könnte, ein Automat, der sich nach hause trollt.
Ich überlege derzeit, ob ich diese Erinnerungen nicht nach Machart, »Ohne Sonne«, schreiben sollte. Chris Markers Film wird von einer Stimme aus dem Off begleitet, die sanft distanzierend, die Erlebnisse und Reflexionen des Autors, quasi zitiert, jenen Autor, der unsichtbar auch in den Bildern selbst nicht auftaucht, die er macht, zeigt und bedenkt. Den Ton des Films übernehme ich für mich so: Bilder spielender Kinder in den sechziger Jahren, riefen in ihm Beklemmungen auf. Er schrieb, diese verfolgten ihn seit früher Kindheit. Sie gehörten in einen Bereich seines Seelenlebens, der kostbar und rätselhaft und gehütet und berührungsempfindlich zum Hort wichtiger Beunruhigungen geworden sei …
Die Ereignisse kämen als unabweisbare Tatsachen. Weder litte er, noch spüre er einen Drang, sie loszuwerden also ganz zu vergessen. Ihre Seltsamkeit, so er, begründete sein labiles Verhältnis zur Realität, sogar die stete Weigerung seines Intellekts auch nur bis Zwei zu zählen, die Fähigkeit Möglichkeitsgegenden erkundbar zu machen, überhaupt sie aus dem Nichts aufzuwerfen. Auch wenn solche Rede sich überhebe, und er sich gewöhnlich gut erde – ja, er gebe zu, seine Lebensuntüchtigkeit käme auch von dort. Er schäme sich, er sei aber in diese doppelt gebrochenen Verluste eingegangen. Amalgamisiert. Ein Therapeut, der, der ihm am nächsten gekommen sei, ein Winnicottianer, habe ihm zu bedenken gegeben, es könne sich um Deckerinnerungen handeln. Er habe ihn gefragt, was vielleicht in der Familie zu jener Zeit dramatisch geworden sei. Wie alt sei er damals gewesen?
Doch er hatte nicht aufgepaßt. Ihm war etwas entgangen, etwas, von dem er nur anders wußte. Also eben absichtlich nicht.
Bekannt war, später durch Bemerkungen der Verwandschaft, die Mutter hatte die Totgeburt von Zwillingen erlitten, vielleicht sogar sie tot austragen müssen. Mag sein oder nicht. Wie damals üblich hatten sie uns Kinder schonen wollen. Sie hatten alles an uns vorbei; wir sollten es nicht mitkriegen, die ganze Krise, den ganzen Schmerz, die ganze Angst. Das haben sie auch fast ganz hinbekommen — aber irgendwie doch nicht. Er stellte den Zusammenhang her und dachte indem, auch gut, noch eine Geschichte. Man kann mehrere Geschichten haben. Man darf nur nicht eine davon durchschlagen lassen, daß sie gar Realität werden könnte. Was ist doch die Realität ein Ernüchterungsapparat, ein Entwerter, Banalitätstransfer. Aber doch, er schrieb, die ersten Geschichten seien noch immer, wie soll er sagen, die Mächtigeren? Besser so: seine Selbstgemachten.
Ich am Strand, der Kopf des Schwimmers in den Wellen, weiter weg der Ball. Es fühlt sich statisch an. Kann eine stringente Dynamik, wie der Schwimmer sich entfernt, wie der Ball sich entfernt, diese Dehnungen der Abstände, die Not und das Wünschen, hier, ich, wo ich steh, kann eine solche Dynamik starr erscheinen? Aber war sie so? Oder doch eher, daß die Elastizität, jenes Ziehen der Intervalle auch mich erreichte und entgleiten ließ? Aber eben, wie Glas fließt.
Jeder einzelne Punkt im Universum dehnt sich, Raum und Zeit, dehnen sich. Die große Expansion. Je weiter entfernt, desto schneller erscheint diese Bewegung, von einem bestimmten Punkt aus gesehen. Denn die lokalen Expansionen addieren sich, jedoch tatsächlich. Es ist eben so, daß Licht, welches von ganz weit hinten versucht, zu mir zu gelangen, sich durch sozusagen immer kräftigere Gegenströmung mühen muß. Es gibt demnach eine Entfernung, in der das Universum schneller expandiert, als das Licht laufen kann. Kafkas Bote, der mich nie erreichen wird. Grause Elastizität. Der ferne Ball weiter weg als der Kopf des Mannes, wie er um so schneller davon treibt. Der Mann wie er den Ball niemals erreichen wird, ich, der ich einen Stand halte, der kontinuierlich ausufert — Hoffnungslosigkeit expandiert. Könnte aber solch sich nicht umkehren? Dann kämen die sich von mir entfernenden Punkte, wie sie von mir fort streben, dennoch in Bälde zu mir zurück. Das Gummiband schnurrte letztlich in mir, der ich selbst mich in mir von mir aus wärts bewegte, zurück, zöge uns zusammen ineinander. Und wieder auseinander. Erinnerung Entäußerung. Von Universalverlust zu Universalverlust, iterieren zwischen zwei Leerefluchtpunkten.
Jeder Punkt des Universums ist Urknall, dessen und der seines eigenen Auftritts. Jeder Punkt emaniert Expansion, aber nicht indem er selbst sozusagen fett wird. Jeder Punkt vermehrt die Körnigkeit des Alls. Aber wiederum häufelt er nicht dessen abstrakte Granularität, sondern wirklicher, bizarrer, knotiger die Komplexität. Die läßt sich nicht schlicht invers rechnen. Jeweils aus sich heraustretend, verändernde Varianz. Mit ihr geht es voran, aber zugleich kein jubelnder Strahlenkranz aufscheinender Universen, sondern Verknotungen, Konkretionen. Allso mein Seitdem. Allso die errungene Distanz.
Diverse Bezugpunkte, diverse Sichtachsen, diverse Landschaftsrealien, die Boote treibe ich Zug um Zug durch das Archipel. Ich sprach mit den Brüdern, allseits ganz unterschiedliche Erinnerungen, unterschiedliche Orte/Zeiten, Deutungen, von allem unterschiedlich keine. Tatsächlich wissen wir nichts und ein Areal gemeinsamer Ahnungen gibt es nicht. Und, so schrieb er ungetragen vom Erzählmut, zögernd, gedämpft, nicht sicher aber doch: er liefere nun die dd manifesteste Version. Ungefragt ab.