Fliegen

Er schrieb, da war er schon älter, daß er sei­ne erste Lek­ti­on in Sachen Flie­gen schon in jenem Kin­der­gar­ten bekom­men habe, aus dem er spä­ter mit sei­nem Bru­der floh. Er erin­nert sich an die selt­sa­me Erre­gung, die mit dem nahen­den Weih­nachts­fest ver­bun­den war. Er und sein Bru­der wur­den von den Eltern, was sel­ten war, bewußt in die Innen­stadt mit­ge­nom­men, weil es »Die Licht­wo­chen« gab. Die Esse­ner Innen­stadt hat­te sich mit gro­ßen Instal­la­tio­nen aus Glüh­bir­nen, über die Stra­ßen gespannt, geschmückt. Sie zeig­te über­all Bil­der, 1001 Nacht. Fun­keln unter schwar­zem Him­mel über­all. Aber er erin­nert sich nur noch an einen wal­len­den, bun­ten Flie­gen­den Tep­pich, ein Muck oben­drauf, gro­ßer Tur­ban. Und kam auf ihn zu. Was, wie er nun auf­schrieb, als eine Ein­la­dung bei ihm ankam.

Aber Flü­gel bekam er im Kin­der­gar­ten. Er war in einen wei­ßen Kit­tel gesteckt wor­den, wie auch die andern Kin­der in der Grup­pe. Sie beka­men auch gol­de­ne Flü­gel, sper­rig, mit Hal­te­run­gen aus Draht, auf den Rücken mon­tiert. Ein gro­ßes Ent­zücken bei den Tan­ten. Wäh­ren­des­sen wur­de er inner­lich immer stei­fer, rei­ne Abwei­sung. Jedoch soll­ten alle mit­ma­chen. Es ging um eine Vor­füh­rung beim Weih­nachts­fest für die Eltern. Das konn­te er damals nicht wis­sen, hät­te aber auch nichts genutzt. Als end­lich die Kin­der im Kreis lau­fen soll­ten, nied­li­che Engel, da mach­te er nicht mit. Sei­ne erstarr­te Mine, sei­ne unwil­li­gen Bei­ne, gegen den Wil­len nicht nur der Tan­ten, son­dern sogar gegen den eines hei­li­gen Weih­nachts­fe­stes, führ­ten zu immer dring­li­che­ren Ver­su­chen ihn zu über­re­den. Man zerr­te, man droh­te, und end­lich wur­de er zur Stra­fe in die Ecke gestellt.

Er erin­nert sich noch immer an sei­nen Zustand damals, dort in der Ecke. Einer­seits aus­ge­sto­ßen und abge­son­dert, ande­rer­seits ent­la­stet, auch wenn er noch im Kostüm steck­te, frei. Ver­stockt und trot­zig war er genannt wor­den. Er hat­te sich leer und immer lee­rer gefühlt, von einem Dun­kel aus­ge­füllt, selt­sam ver­stopf­te es ihm von innen her die Poren. Der Kopf inner­lich unter Druck, das Gesicht wie auf­ge­dun­sen, nein geweint hat er nicht. Er ver­gaß dann die sin­gen­den Kin­der hin­ter sei­nem Rücken. Auch die Ecke war dun­kel, kam ihm ent­ge­gen. Es war nicht so, daß er sich mit dem Kram beschäf­tigt hät­te, der dort her­um­lag. Die Ecke war sein Allein­sein. Dun­kel kam mit Dun­kel über­ein. Das war’s.

Man hat­te auch gesagt, er sol­le sich schä­men. Hat er damals Scham emp­fun­den? Viel­leicht hat er damals gelernt, was Scham sein soll. Im Boden ver­sin­ken war’s nicht. Abgrund schon. Die Ecke, so würd er heu­te sagen, schlug ihre Flü­gel um ihn. Er stürz­te nicht. Er iden­ti­fi­zier­te sich mit dem Win­kel, der ihm maß­los groß vor­kam, so groß wie nur Drei­jäh­ri­gen die Welt erschei­nen kann. Hier war das Gegen­teil von Phan­ta­sie, näm­lich in Wirk­lich­keit ein Raum, wo er blei­ben woll­te. Star­ke Schwin­gen? Viel spä­ter, als er gewohnt war, sich mit dem Welt­all kos­mo­lo­gisch aus­ein­an­der­zu­set­zen, fand er für sich die For­mel, in der Schwe­re­lo­sig­keit sei Fal­len Schwe­ben.

Die Tan­ten, heu­te würd man sie Erzie­he­rin­nen nen­nen und nicht mit »Tan­te« anre­den, haben ihn übri­gens nicht zurück­ge­holt. Er konn­te sei­ne Ecke behal­ten und hat­te seit­dem zusätz­lich zu sei­nem unbe­fan­ge­nen Wil­len einen spe­zi­el­len Mut. Der führ­te dazu, daß das mit dem Kin­der­gar­ten auf­hör­te.

Bouil­lon. Die Kin­der krieg­ten ent­we­der Milch oder Bouil­lon. Milch koste­te mehr, Bouil­lon war bil­li­ger. Die Eltern hat­ten für Milch bezahlt, also beka­men wir Milch. Wir, das sind mein jün­ge­rer Bru­der und ich. Wir gin­gen in den­sel­ben Kin­der­gar­ten, zum Essen kamen wir zusam­men. Es kann sein, ver­mut­lich, daß ihn damals das Wort Bouil­lon neu­gie­rig gemacht hat­te, jeden­falls ver­lang­te er statt der Milch den Bouil­lon, stör­risch und ließ nicht davon ab. Sein Bru­der schloß sich ihm an. Bouil­lon! Nur war das eben eine Unmög­lich­keit, sie waren anders ein­ge­teilt. Er sieht noch die robu­ste Tan­te hin­ter den gro­ßen Töp­fen mit der Kel­le. Er weiß nicht mehr, was für eine Sze­ne sie gemein­sam hin­leg­ten, ob über­haupt. Es kam immer­hin dazu, daß sie in den Wasch­raum gesperrt wur­den.

Nun lag der Wasch­raum genau gegen­über dem Haupt­ein­gang. Es gab eine Trenn­wand aus klei­nen Fen­ster­qua­dra­ten. Nach­dem sie zunächst zwi­schen den Rei­hen von Wasch­becken umher­ge­stromert waren, hin­gen sie an den Schei­ben der Trenn­wand und blick­ten nach drau­ßen. Links war die Wand mit der Tür zum Grup­pen­raum, die war zu. Gegen­über die gro­ße Tür ins Freie. Rechts war die Wand, wo die Brot­ta­schen hin­gen. Sie ent­deck­ten ihre. Und sie ent­deck­ten, daß die Wasch­raum­tür nicht ver­schlos­sen war. Er nahm mit dem Gefühl eines Absprunges sei­nen Bru­der bei der Hand, sie hol­ten sich die Brot­ta­schen, drück­ten die gro­ße Tür auf und waren in der Stadt. Direkt im Gewühl. Was sie woll­ten? Nach Hau­se. Sie lie­fen los. Nach der zwei­ten Ecke aber merk­ten sie, daß sie den Weg ver­lo­ren hat­ten. Zuviel Rea­li­tät. Alles sah anders aus als gewohnt. Aber tap­fer lie­fen sie wei­ter, der Bru­der inzwi­schen in Trä­nen. Die Pas­san­ten zog es irgend­wie in eine bestimm­te Rich­tung. Sie schlos­sen sich an. Was in dem Fal­le rich­tig war, denn so wur­den sie von den Eltern gefun­den, die zufäl­lig eben­falls auf dem Weg zum Markt waren. Erlö­sung. Die Welt hat­te wie­der ihre Ord­nung.